Hoffnungen und Enttäuschungen einer Teheraner Universitätsdozentin

Am ersten Tag der Wiederaufnahme ihrer Lehrtätigkeit trägt Mitra zum ersten Mal seit Mahsas Tod am 16. September 2022 in der Öffentlichkeit Hijab: „Ich fühlte mich seltsam, eine Mischung aus Furcht und Traurigkeit. Ich betrat das Klassenzimmer. Meine Klasse war einst voller Hoffnung und Leidenschaft, aber jetzt gab es keine Spur mehr von diesen beiden faszinierenden Gefühlen. Ich spürte mit jeder Zelle meines Körpers, dass Enttäuschung und Wut die Überhand gewonnen hatten. Ich hatte Mühe, meine Tränen zurückzuhalten.“

Mitras Rücktritt war zur Unterstützung der Student:innen geschehen, die ihr Leben für Freiheit und Gerechtigkeit aufs Spiel gesetzt hatten: „Nun saßen sie im Hörsaal und starrten mich mit kaltem, gleichgültigem Blick an, als wollten sie mir vorwerfen: Du hast auch aufgegeben!“ Mitra kann ihnen nicht sagen, dass sie nur aus Liebe zu ihnen und ohne Bezahlung zurückgekehrt ist. Aber eines konnte sie ihnen mitteilen: „Jede, die will, kann ohne Hijab in meine Klasse kommen. Es gibt hier diesbezüglich keine Grenzen.“
Sie schauen Mitra überrascht und ungläubig an. Ein Student sagt sarkastisch: „Wissen Sie nicht, dass die Universität angeordnet hat, dass Dozenten, die unverschleierten Studentinnen den Zutritt zum Unterricht erlauben, von der Uni verwiesen werden?“

„Ich würde niemals eine Frau zu einem Hijab zwingen, den ich selber nicht akzeptiere“, erwidert Mitra. Die schwere Atmosphäre im Raum weicht allmählich. Bei manchen kann Mitra ein fast unsichtbares Lächeln wahrnehmen: „Ihre Blicke wurden herzlich und freundlich.“

An der Allameh-Tabatabai-Universität in Teheran wurde an den von den "Sicherheitskräften" getöteten Kindern im Iran gedacht - Foto vom November 2022
An der Allameh-Tabatabai-Universität in Teheran wurde auch an den von den „Sicherheitskräften“ getöteten Kindern während der landesweiten Proteste im Iran gedacht – Foto vom November 2022

Die Vorladung

Vor der nächsten Unterrichtsstunde wird die Dozentin in das Büro des Sicherheitschefs der Universität gerufen: „Als ich sein Büro betrat, wurde ich von unheimlichen Blicken empfangen. Es fielen mahnende Worte, schließlich folgten Beleidigungen und Drohungen.“ Mitra wehrt sich, denn sie war ja keine Angestellte der Universität mehr: „Dann herrschte Stille. Ich vermutete, dass sie aus den Protesten der letzten zwei Jahre ihre Lektion gelernt hatten, dass sie wussten, etwas Freiheit würde eventuell die nächsten Proteste verhindern.“

Seit diesem Tag ist ihre Klasse zu einem sicheren Ort für Student:innen geworden, die hungrig nach Freiheit und Gerechtigkeit sind und über diese für Iraner:innen lebenswichtigen Themen sprechen wollen, Student:innen, die ohne Angst über ihre Abscheu vor Einschränkungen, Hijab-Zwang und religiösen Überzeugungen sprechen möchten.

„Dafür haben ich und meine Student:innen oft den bitteren Geschmack von Vorladungen zum Sicherheitsamt, Beleidigungen und Drohungen gekostet“, sagt Mitra. Jedes Mal kann sie sich „rechtfertigen und ihnen klar machen, dass wir nicht in einer Grundschule sind“. Außer Mitra gibt es auch andere Dozent:innen, die Ähnliches erleben. Sie ist also nicht allein. Außerdem haben diese Dozent:innen die Unterstützung der Student:innen.

„Mein Ziel ist es, den Student:innen Mut zu machen“ sagt Mitra: „Ich weiß, dass meine Lehrtätigkeit an der Universität nicht lange dauern wird, aber ich genieße jeden einzelnen Moment, der mir noch bleibt, und halte die Hoffnung auf eine strahlende Zukunft in mir und in den Herzen meiner Student:innen lebendig.“

Mitra hat auch eine Botschaft an die Menschen außerhalb der iranischen Grenzen: „Ich möchte, dass alle Welt weiß: Obwohl die Menschen auf den Straßen des Iran nicht mehr den gleichen Kampfeifer haben, lodert im Herzen der Universitäten und in den Klassenzimmern der Schulen ein stiller und zugleich tosender Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Er ist vielleicht nicht sichtbar, er mag nicht auf den Webseiten der Nachrichtenagenturen und in den Zeitungen stehen, aber er existiert und hört nie auf. Jeden Tag verteidigen mutige Student:innen ihre Ideale, indem sie ihre Zukunft, ja sogar ihr Leben riskieren. Mit jedem Versuch des Staates, sie zu unterdrücken, werden sie entschlossener und mit jeder Begegnung mit Sicherheitsbehörden des Regimes werden sie kreativer in ihrem friedlichen Kampf.“

Mitra glaubt, dass die Flammen dieses Kampfes nicht gelöscht werden können: „Eines Tages wird diese tapfere und furchtlose Generation ihre Rebellion auf die Straße bringen. Der nächste Aufstand wird sehr wahrscheinlich von den Universitäten ausgehen, von dieser kühnen und einzigartigen Generation, die über alles offen und gern spricht, nur nicht über Gewalt.♦

Liebe Leser:innen,

wenn Sie unsere Arbeit schätzen und die Zukunft des Iran Journal sichern wollen, werden Sie durch direkte Spenden (mit Spendenbescheinigung hier klicken) oder durch die Plattform Steady (hier klicken) Fördermitglied der Redaktion. Dadurch sichern Sie eine kritische und unabhängige Stimme für die iranische Zivilgesellschaft.

 Zur Startseite