Ayatollah Ali Khamenei beim Freitagsgebet in Teheran - Foto: eghtesadnews.com

Übersetzer gesucht: Was will Khamenei?

Wie groß war Khameneis Fehler? Sehr groß, sagt Benjamin Netanjahu, und nur er allein kennt die ganze Antwort. Während Khamenei seine Predigt hielt, befand sich sein Außenminister Abbas Aragshi auf dem Flug nach Beirut. Sowohl Khameneis öffentlicher Auftritt in Teheran als auch Aragshis Flug nach Beirut werden in den Medien als Mutbeweise präsentiert. Und am Tag zuvor war der Präsident Pezeshkian in Qatar.

Jenseits der iranischen Grenze, in den Hauptstädten Libanons und Qatars, sollten der Präsident und der Außenminister Khameneis widersprüchliche Worte von Zurückhaltung und Eile in diplomatische Sprache übersetzen – als eine Art Angebot für einen Waffenstillstand, was Aragshi auch sehr klar formulierte. Doch Netanjahu hat Großes vor.

Netanjahu verspricht Iranern „Blütezeit“

Am Vorabend der Bodenoffensive in Libanon richtete er sich direkt an die iranische Bevölkerung: Die Freiheit in Iran sei näher, als viele dächten, erklärte Netanjahu. Und im Gegensatz zum iranischen Regime stünde Israel „an ihrer Seite“. Die Herrschaft der Ayatollahs bringe die Iraner:innen täglich „näher an den Abgrund“ und die Region tiefer in Krieg und Dunkelheit. Das dürfe nicht die Zukunft der Menschen in Iran sein.

„Wenn Iran endlich frei ist – und der Moment wird früher kommen, als man denkt –, wird alles anders sein. Zwei alte Völker, das jüdische und das iranische, werden endlich im Frieden sein.“ Für Iran werde dann „eine neue Blüte“ anbrechen: „Klingt das nicht besser als endlose Armut, Unterdrückung und Krieg?“, fragte Netanjahu und forderte: „Lasst nicht zu, dass eine kleine Gruppe fanatischer Gotteskrieger Eure Hoffnungen und Träume zertrümmert.“ Die Iraner:innen und die ganze Welt hätten Besseres verdient: „Mögen wir gemeinsam eine Zukunft von Wohlstand und Frieden erleben!“ – mit diesem Satz beendete er seine relativ lange Botschaft, die viele persischsprachige TV-Sender im Ausland zur besten Sendezeit und in voller Länge ausstrahlten und die auf allen Kanälen der sozialen Netzwerke viral ging, Zehntausende Kommentare bzw. Beschimpfungen inklusive.

Nur naive Geister können annehmen, es entstünde nach Israels Bombardement in Iran eine neue Blütezeit. Viel sicherer ist genau das Gegenteil. Glaubt man den Medien der Revolutionsgarden, wird danach nichts in der gesamten Region so sein wie vorher. Ihre Ziele sind vor allem US-amerikanische Stützpunkte. Hinter allen Machenschaften stünden die USA, sagte Khamenei am Freitag, und das ist eine Zielvorgabe für die Zukunft. Vor allem in Saudi-Arabien weiß man, dass ihre lebenswichtige Ölindustrie eines der bevorzugten Angriffsziele der verschiedenen Milizen sein könnten.

Der Iran-Irak-Krieg hat Hunderttausende Tote hinterlassen - Foto: defapress.ir
Der Iran-Irak-Krieg hat Hunderttausende Tote hinterlassen – Foto: defapress.ir

Wer findet den Giftbecher?

In diesen Tagen braucht Iran offenbar ein جام زهر – einen Schierlingsbecher -, der mehr mit dem Leben zu tun hat als mit dem Tod. Das mag verwunderlich klingen, aber dieser Feststellung stimmt die Mehrheit der Iraner:innen zu. Der Giftbecher und das Kriegsende sind im allgemeinen Bewusstsein fast unzertrennlich verbunden. Und die Bekanntheit dieser merkwürdigen Verbindung ist niemand Geringerem zu verdanken als Ayatollah Ruhollah Khomeini, dem Gründer der islamischen Republik. Der Krieg mit dem Irak befand sich im achten Jahr, Hunderttausende Tote, noch viel mehr Verwundete und Zerstörungen waren die Folge und ein Sieg kaum in Sicht. Kriegsmüdigkeit war die herrschende Stimmung. Wenige Monate vor seinem Tod, er war krebskrank, sagte der Revolutionsführer, er müsse einen جام زهر , Giftbecher trinken und widerwillig der UN-Resolution 598 für einen Waffenstillstand zustimmen. Damit war das Sterben an der Front einstweilen beendet.

Ursprünglich wollte Khomeini mit diesem ewigen Krieg den Weg nach Jerusalem ebnen. Vergeblich: Diesen Wunsch nahm er wenige Monate später mit ins Grab. Sein Nachfolger, Ali Khamenei, brauche heute aber zwei Giftbecher, schrieb der Journalist Mehdi Nassiri nach dem Tod von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. Ali Khamenei sei jetzt genau dort, wo Ruhollah Khomeini vor 36 Jahren stand, mit dem Unterschied, dass er heute eben zwei Giftbecher brauche: einen für das Ende der Stellvertreterkriege und den anderen für grundsätzliche Reformen im Inneren. Mit ersterem könne er einen möglichen Krieg mit Israel verhindern und mit dem zweiten einen Frieden mit der eigenen Bevölkerung erreichen.

Mehdi Nassiri war einst Chefredakteur der Tageszeitung Keyhan, der Hauspostille Khameneis, und als glühender Anhänger bei allen seinen Audienzen anwesend. Heute ist er einer der schärfsten Kritiker des Regimes, seinem Telegramkanal folgen täglich Hunderttausende. Die Gründe für diese sehr radikale Wende sind vielfältig. Die „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung sei der stärkste und letzte Wachruf gewesen, um aus dem tiefen Schlaf der Engstirnigkeit aufzuwachen, schrieb er einmal auf seinem Kanal.

Khamenei scheint unfähig, „den lebensrettenden Schierlingsbecher“ zu trinken. Kann die Außenwelt ihm helfen, damit die angekündigte Katastrophe mit universellem Ausmaß verhindert wird?♦

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