Teherans Zeitenwende
All das geschah aber in einer anderen Welt, diese vergangenen vier Dekaden sind nach dem 7. Oktober 2023 tatsächlich vergangen, gehören der Geschichte an. An diesem Tag sind auch die Mächtigen in Teheran in einer neuen Welt aufgewacht. Sie müssen neue Koordinaten für ihre Regionalpolitik entwerfen.
Wie sehen sie nun die Zukunft, wovor fürchten sie sich? Wie ohnmächtig müssen sie sich fühlen, dass sie sich beim Reuters-Büro in Dubai melden müssen? Sie ahnen, ja sie rechnen offenbar fest damit, dass noch viel mehr unterwegs ist, Schlimmeres als das Furchtbare, was momentan in Gaza passiert, etwas, das die „Mächtigen“ in Teheran zu machtlosen Zuschauern degradiert.
Tacheles aus Israel
Zufall oder nicht, einen Tag nach der Reuters-Meldung sagte der israelische Außenminister Israel Katz der Zeitung Yedioth Ahronoth, die Möglichkeit, dass es zu einem Krieg mit der Hisbollah komme, bestehe mehr denn je. Und wenn es dazu käme, werde dieses Mal – anders als 2006 – der ganze Libanon die Folgen tragen müssen.
Die Hisbollah müsse sich gemäß der UNO-Resolution 701 bis zum Litani-Fluss zurückziehen, also etwa vierzig Kilometer von der israelischen Grenze entfernen. Die fast 80.000 evakuierten Israelis, die an der Grenze zum Libanon wohnen, würden erst dann in ihre Dörfer zurückkehren, so der Minister. Und er fügte hinzu, die Evakuierten müssten, sie würden zurückkehren.
Denkt die Hisbollah tatsächlich an einen solchen Rückzug oder rechnet auch sie mit einem großen Krieg? Scharmützel gibt es derzeit täglich, und sie werden kontinuierlich heftiger.
Die Hisbollah demonstriert Unbeugsamkeit
Am ersten Freitag des Fastenmonat Ramadan, also zwei Tage nach Katz‘ Interview, trat im Südlibanon Scheich Hashem Safi Al Din, der zweitmächtigste Mann der Hisbollah, als Freitagsprediger auf und machte klar, wohin die Reise geht. „Es ist eine Illusion, eine Wahnvorstellung, wenn die Zionisten denken, der Widerstand ziehe sich zurück.“ Der einzige Weg der Geflüchteten sei: „Sie bleiben auf der Flucht.“
Ob Predigt, Propaganda oder Politik, werden wir in nicht allzu langer Zeit erfahren. An der Entschiedenheit Israels, seine evakuierten Bürger:innen zurückzubringen, kann und darf man momentan allerdings nicht zweifeln.
Die Mächtigen in Teheran ahnen, dass eine noch unruhigere Zeit bevorsteht. Was werden sie dann tun? Die schiitische Hisbollah, die sie selbst einst gründeten und die inzwischen zu einer hochgerüsteten und effektiven Miliz aufgestiegen ist und wie ein Quasistaat funktioniert, hat für die Islamische Republik einen völlig anderen Stellenwert als die sunnitische Hamas, die – aller Unterstützung zum Trotz – eine eigene Agenda verfolgt. Bereitet man sich in Teheran darauf vor, in einem offenen Krieg zwischen der Hisbollah und Israel wie im Gaza-Krieg die Rolle des nörgelnden Zuschauers zu übernehmen?
Schwer zu sagen. Nur so viel: Vor drei Tagen las man auf der Webseite des staatlichen iranischen Rundfunks unter der Schlagzeile „Realismus und Idealismus“ eine sehr interessante politisch-philosophische Analyse. Sie war an einheimische Revolutionär:innen gerichtet und legitimierte die Zuschauerrolle im gegenwärtigen und im künftigen Krieg in und um Palästina. Die Tatenlosigkeit gegenüber der Hamas heute und morgen höchstwahrscheinlich gegenüber der Hisbollah bedeute nicht, dass man seine Ideale aufgegeben habe, hieß es in dieser langatmigen Argumentationshilfe für die Anhänger der Radikalen: Historisch bleibe man trotzdem Sieger.♦
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