Das radikale Europa und der geschwächte Gottesstaat
Die Zeit drängt. Bis Ende September muss die Islamische Republik vieles offenlegen und weit über ihren eigenen Schatten springen. Europa setzt den Machthabern in Teheran eine ultimative Frist – sonst kommt der „Snapback-Mechanismus“ zum Einsatz. Bekommt Ali Khamenei mit, was in seinem und um sein Reich herum geschieht?
Von Ali Sadrzadeh
Sein Gesicht ist verkniffen und verzerrt, seine Stimme zornig und gebrochen; in seiner kurzen Ansprache hat er nichts anderes zu verkünden als Ungewissheit. Ali Khamenei hat sich seit den zwölf Tage andauernden Luftangriffen Israels und der USA auf den Iran im Juni nur drei Mal aus seinem Versteck heraus gezeigt.
Gebrochen und fern von der Realität
Diese drei Monate waren eine Art Verborgenheit, die für den Schiismus konstitutiv, ja, Quelle der Hoffnung ist. Die versprochene Zukunft kommt am Ende dieser Verborgenheit, wenn der zwölfte Imam erscheinen wird; der Ayatollah, der die Welt auf dessen Wiederkehr vorbereitet, regelt einstweilen als sein Stellvertreter und in seinem Namen die irdischen Geschäfte. Das ist das Selbstverständnis der islamischen Republik, die Legitimation von Khameneis Herrschaft.
Hat er in seinem Unterschlupf begriffen, was dieser kurze Krieg aus seiner Republik gemacht hat? Ahnt er, was genau der „Feind“ noch von ihm will; begreift er, welche realen Gefahren lauern, im Inneren ebenso wie aus dem Ausland, und, noch wichtiger: Wird er über die Stimmung im Land ausreichend informiert?
Nein, wenn man seine drei kurzen Wortmeldungen nach dem Krieg als Antworten für die Lösung des großen Bergs von Problemen betrachtet, den er lange vor sich her geschoben hat und für den er in jetzt sehr schnell Lösungen finden muss. Viel Zeit hat er nicht: Sogar von Tagen und Wochen ist die Rede.
Ali Khamenei sieht nach diesen drei Monaten, die er an einem unbekannten Ort verbrachte, gebrochen und um Jahre älter aus. Er ist nicht mehr jener wortgewaltige Prediger, den wir vor diesem Krieg erlebten, der bis zu einer Stunde lang druckreif verbal durch die Welt reiten konnte. Vergangenen Sonntag sprach der bald 87-Jährige mit sichtlicher Mühe ganze acht Minuten. Seine Zuhörer, der Präsident und sein Kabinett, lauschten aufmerksam. Ihnen hatte er zwei wichtige Dinge zu sagen: Erzählt nicht von den Schwächen des Landes, redet von unseren Stärken, und das zweite, das eigentliche: Holt das Land aus diesem Zustand zwischen Krieg und Frieden heraus. Und in einem kurzen Nebensatz sagte er auch noch: Kümmert Euch um den Alltag der Menschen.
Der gefährliche Schwebezustand
Fangen wir mit dem Zweiten an, dem gefährlichen Schwebezustand „weder Frieden noch Krieg“, von dem alles andere abhängt.
Es ist eine Ironie der Geschichte. Es war Khamenei, der jahrelang die Parole prägte: „Weder Verhandlung noch Krieg“. Wieder lag er falsch, er erlebte einen verheerenden, desaströsen Krieg, sieht nach seinem dreimonatigen Versteck eine völlig neue Welt vor sich und stellt etwas Sonderbares fest: Inzwischen sind es die USA, die nicht mehr auf Verhandlungen erpicht sind. Sie glauben, die iranischen Atomanlagen seien weitgehend zerstört, die Gefahr einstweilen behoben, ergo gäbe es nicht viel, worüber man reden müsste. Ob dies ganz stimmt, ist eine andere Geschichte. Vor allem Europa will weiterhin Klarheit darüber haben, was von den unterirdischen Atomanlagen Irans übrig geblieben und was aus dem hochangereicherten Uran geworden ist.
Plötzlich drohen die Europäer, die immer als Vermittler zwischen Iran und USA aufgetreten sind, und drängen Teheran zu Klarheit und Offenlegung.
Sie haben drei konkrete Forderung: Die Machthaber müssen die auf etwa 60 Prozent angereicherten 400 Kilogramm Uran unter internationale Kontrolle stellen, die Inspektoren der Atomenergiebehörde wieder frei im Iran arbeiten lassen und schließlich direkt mit den USA über die Lösung aller anderen Probleme verhandeln. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, haben sie das Verfahren zur Auslösung des so genannten „Snapback-Mechanismus“ zur Wiedereinführung von UN-Sanktionen angeschoben. Das wird sehr schmerzlich sein.
Ein Frist von Tagen
Dieser Mechanismus dient dazu, den Iran bei Nichteinhaltung seiner Verpflichtungen gemäß des Wiener Atomdeals wieder mit Sanktionen zu belegen. Dieses Prozedere sieht eine UN-Resolution von 2015 vor. Die Besonderheit des „Snapback“ liegt darin, dass er zugleich die Blockade-Möglichkeit der Vetomächte im UN-Sicherheitsrat aufhebt. Russland und China werden den Machthabern in Teheran nicht beistehen können.
Gemeinsam mit Kaja Kallas, der Koordinatorin der EU-Außenpolitik, erklärten Anfang September die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands: Sollte eine Entscheidung nicht innerhalb von 30 Tagen zustande kommen, würden sie den UN- Sicherheitsrat anrufen, damit alle früheren UN-Sanktionen aus den Jahren 2006 bis 2010 ohne weitere Abstimmung wieder in Kraft treten.
Diese UN-Sanktionen sind viel schärfer als jene der USA. Sie umfassen nicht nur ein vollständiges Waffenembargo sowie von Finanztransaktionen, sie erhöhen zugleich den Druck auf China, den Öleinkauf aus dem Iran einzuschränken. Die Frist läuft in wenigen Tagen ab: Ende September tritt der Mechanismus in Kraft, sollte bis dahin keine Einigung erzielt werden. Und die iranischen Machthaber ahnen, dass dies keine leere Drohung ist.
Der Canossagang nach Kairo
Am Dienstag traf sich Irans Außenminister Abbas Araghchi in Kairo mit Rafael Grossi, dem Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA. Unter Vermittlung des ägyptischen Außenministers sprachen sie mehrere Stunden miteinander. Danach schrieb Grossi auf X, man habe sich über die Modalitäten geeinigt, wie Atominspektionen im Iran wieder aufgenommen werden könnten. Die Einzelheiten bleiben im Dunkeln.
Allein der Ort dieses Treffens zeigt, wie spürbar der Druck der Europäer in Teheran angekommen ist. Iran und Ägypten haben seit Bestehen der Islamischen Republik keine diplomatischen Beziehung mehr, doch wenn die Situation derart brenzlig wird, sind alle Vermittler willkommen, auch wenn es alte verschmähte Gegner sind.
Um diese Annäherung an Ägypten zu meistern, musste die Islamische Republik über ihren Schatten springen – natürlich auf eigene Art. Kurz nach dem Sieg der Revolution hatten die Machthaber eine Straße im Norden Teherans nach Chaled Islambuli benannt, jenem radikalislamischen Offizier, der den ägyptischen Präsidenten Anwar el Sadat auf spektakuläre Weise bei einer Militärparade ermordete, weil dieser kurz davor die Beziehungen zu Israel normalisiert hatte. Fast vierzig Jahre lang markierte dieser Straßenname die Bruchlinie zwischen Teheran und Kairo. Seit der Entscheidung für den Canossa-Gang trägt die Straße nun den Namen von Hassan Nasrallah, dem ermordeten Chef der libanesischen Hisbollah.
Der unterwürfige Gang nach Kairo ist auch eine direkte Folge des 12-tägigen Kriegs. Zwei Tage nach dem Bombardement der Atomanlagen von Fordo durch die US-Luftwaffe griffen die Revolutionsgarden den US-Luftwaffenstützpunkt Al-Udeid nahe der katarischen Hauptstadt Doha an. Es war zwar ein symbolischer, vorher angekündigter Angriff ohne menschlichen oder materiellen Schaden, doch es reichte aus, um Katar als ewigen Vermittler zu den USA einstweilen auszuschalten.
In Kairo sagte Araghchi, im Falle „feindseliger Handlungen Europas“ – einschließlich einer Wiedereinführung alter UN-Sanktionen – werde der Iran die Übereinkunft als beendet betrachten.
Kommen die Inspektoren nach Teheran?
Doch aus Ägypten zurückgekehrt, erzählte er gegenüber iranischen Medien, einstweilen werde kein Inspektor in den Iran kommen. Erst, wenn die EU erkläre, auf die Aktivierung des Snapback-Mechanismus zu verzichten, könne die Arbeit der IAEA im Iran beginnen. Über die 400 Kilogramm Uran schwiegen alle; weiterhin bleibt unklar, was die Luftangriffe Israels bzw. der USA angerichtet haben und was mit jenem Material geschehen ist, das laut IAEA einen beinahe atomwaffentauglichen Reinheitsgrad hat.
Auch über die dritte EU-Forderung herrscht Unklarheit. Vielleicht wissen die Europäer selbst nicht, ob, wann und worüber die USA mit Iran verhandeln werden; Trump hat keine Eile. Ihre Atomanlagen seien vernichtet, sie hätten nichts mehr: „Worüber sollen sie verhandeln?“, wiederholt er immer wieder triumphierend.
Der Grund, warum die Europäer es plötzlich so eilig haben, liegt darin, dass ab Oktober turnusgemäß Russland die Präsidentschaft des UN-Sicherheitsrats inne hat und es kaum vorstellbar ist, dass das Thema dann auf die Tagesordnung kommt – zumal der Snapback-Mechanismus laut Atomabkommen am 18. Oktober ausläuft.
Dass Khamenei die Regierung nur in einem Nebensatz anwies, sie möge sich auch um den Alltag der Menschen kümmern, verdeutlicht seine Prioritäten. Gegenüber dem radikal auftretenden Ausland darf man nachgeben. Doch für das aufbegehrende Volk, das gegen Wasser- und Stromknappheit sowie Massenentlassungen protestiert, hat man andere Mittel parat.
Foto: Khamenei.ir
Von Ali Sadrzadeh erscheint in Kürze das Buch „Ali Khamenei: Aufstieg und Herrschaft“, Kohlhammer Verlag.