Goethe und die iranische Revolution

Als das „schrecklichste aller Ereignisse“ bezeichnete Johann Wolfgang Goethe die größte Revolution seiner Zeit: die französische. Hätte der Dichterfürst sich vorstellen können, dass 200 Jahre später eine Revolution von einem Institut ausgeht, das seinen Namen trägt? 

Von Ali Sadrzadeh

„Wir beteten für den Regen, aber es kam eine Sintflut.“ Dieser Satz ging in die Geschichte ein. Es waren die letzten Worte der Abschiedsrede von Mehdi Bazargan, dem ersten Ministerpräsidenten der Islamischen Republik Iran. Sieben Monate lang hatte der Absolvent der französischen „Ecole Centrale des Art et Manufactures“ das moderne und moderate Gesicht der neuen Macht im Iran präsentieren dürfen. Dann wollten die radikalen Mullahs die ganze Macht für sich allein.
Bazargan, der in Frankreich Thermodynamik studiert und Dutzende Bücher über das Ingenieurwesen und den Islam geschrieben hatte, war bekannt für seine witzige und metaphorische Sprache. Als das iranische Parlament ihm sein Misstrauen aussprach, beschrieb er mit dem legendär gewordenen Satz vom Regen und von der Sintflut nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern den gesamten historischen Verlauf dieser eigenartigen Revolution. Regen ist in der persischen Poesie das Sinnbild für Leben, Schönheit und Lebendigkeit. Regen, باران,, ist im Iran ein beliebter Frauenname; das Paradies ist ein Garten, in dem Regenwasser plätschert. Wie ein anfänglicher Wunsch nach Leben spendender Nässe sich nach und nach in eine Flut von Gewalt und Zerstörung verwandelte: Eine solche dramatische Entwicklung kann man nicht besser auf den Punkt bringen als durch Bazargans Metapher von Regen und Sintflut.
Zufällig regnete es tatsächlich in Teheran, als die Revolution mit Poesie begann. Sechzig Dichter führten im Garten des deutsch-iranischen Klubs zehn Nächte lang das rebellische Wort und die Deutschen hielten ihre schützende Hand über die protestierenden Poeten. Zehntausende lauschten allabendlich und marschierten dann durch die nächtlichen Straßen der iranischen Hauptstadt. Das war im Oktober 1977. Vierzehn Monate später war die Monarchie im Iran Geschichte. 

Revolutionen werden nicht geplant

Das Poster der Dichterabende vom Teheraner Goethe-Institut
Das Poster der Dichterabende vom Teheraner Goethe-Institut

Deutsche und Revolution? Und das im Namen von Goethe? Es war nicht das erste Mal, dass etwas Undenkbares geschah, etwas Unvereinbares zusammenkam – und es wird mit Sicherheit nicht das letzte Mal gewesen sein. Denn eine Revolution wird nicht geplant, sie findet einfach statt. Und wenn man sich danach fragt, was eigentlich an ihrem Anfang stand, fallen einem zahlreiche, manchmal gegensätzliche Antworten ein. Auch diese Verwirrung ist verständlich. Wenn eine Revolution ein Prozess mit einer langen Vorgeschichte ist, dann kann es eben keine eindeutige Antwort darauf geben, wann sie ausbrach. Sie entwickelt sich in einem Zeitraum, der kurz oder lang sein kann, sie wird oft laut, lärmend und gewaltsam sein, oder – was seltener vorkommt – leise und friedlich.
Es ließe sich daher endlos darüber streiten, was oder wer die Flamme entzündete, was das Fanal für den Aufstand im Iran war, der schließlich zum Umsturz führte. Aber oft hat der Anfang mit dem Ende gar nichts zu tun. Heutige Zeitgenossen würden mit Sicherheit lachen, wenn man erzählt, dass am Beginn des revolutionären Aufbruchs im Iran vor vierzig Jahren Nächte voller Poesie und Dichterlesungen standen. Es ist aber wahr. Es waren die Poeten, die das aufgestaute revolutionäre Potential entzündeten. Und zwar – darin sind sich alle einig – ohne es zu wollen. Keiner dieser Dichter wollte jene Revolution, die Monate später siegte und ihre Herrschaft im ganzen Land ausbreitete. Doch es sind oft Zufälle und nicht Pläne oder Wünsche, die den Gang der Geschichte bestimmen.

Nicht mehr als eine Anfrage

Vorausgegangen war den ebenso lyrischen wie historischen Nächten nichts weiter als eine unverbindliche Anfrage beim Teheraner Goethe-Institut. Sie wurde positiv beschieden und daraus wurde „der Anfang vom Ende des Schah-Regimes“, so sagt es Hans Becker, der damalige Leiter des Goethe-Instituts, später in einem Interview.
Die folgenreiche Anfrage gestellt hatte ein junger Journalist der Teheraner Tageszeitung Keyhan. Jalal Sarfaraz, der selbst auch dichtete und malte, berichtete für seine Zeitung vor allem über Theater, Kino und Dichterlesungen. „Seit der letzten Dichterlesung im Goethe-Institut waren bereits zwei Jahre vergangen, als ich Kurt Scharf, damals Kulturreferent des Teheraner Goethe-Instituts, fragte, ob er nicht wieder einmal eine Dichterlesung veranstalten wolle“, erinnert sich Sarfaraz heute in seinem Berliner Exil. Es war zu Beginn des Sommers 1977, an das genaue Datum kann sich Sarfaraz nicht erinnern – immerhin sind seither vierzig Jahre vergangen. „Gern würden wir das tun, wenn Sie die Sache in Angriff nehmen könnten“, lautete die Antwort von Kurt Scharf.
Scharf, exzellenter Kenner und Interpret der iranischen Geistesgeschichte, ist im deutschsprachigen Raum als brillanter Übersetzer aus dem Persischen und Herausgeber bekannt. Er beschäftigte sich nicht nur mit den Klassikern der persischen Lyrik wie Hafis, Rumi oder Omar Chajjam, sondern auch mit modernen Dichtern und Schriftstellern, die sich in Lyrik und Prosa sehr kritisch mit der aktuellen Situation im Iran auseinandersetzten. Bis heute ist der Pensionär als Vermittler zwischen Orient und Okzident unterwegs. Und auch Scharf kann heute nicht mehr sagen, wann genau in jenem Sommer die Anfrage kam, aus der die Idee der legendären „Nächte der Poesie“ geboren wurde.

Bis zu 15.000 Besucher, hauptsächlich Studenten, kommen allabendlich zu den Dichterlesungen des Goethe-Instituts
Bis zu 15.000 Besucher, hauptsächlich Studenten, kommen allabendlich zu den Dichterlesungen des Goethe-Instituts

 
Der Geheimdienst wird ein Auge zudrücken
Jedenfalls lagen vier bis fünf Monate zwischen jener Anfrage des Journalisten Sarfaraz und dem Beginn der zehn Poesienächte, die nicht nur den Iran, sondern die ganze Welt veränderten. In diesen Monaten hat Sarfaraz viel zu tun. Er ist sich mehr oder weniger sicher, dass, allen Einschränkungen und Repressionen zum Trotz, die Dichterlesungen zustande kommen werden. Denn er schätzt die innen- und außenpolitische Lage als günstig ein. Nicht nur die positive Antwort des deutschen Kulturinstituts stimmt ihn optimistisch. Die gesamte Situation scheint so vielversprechend, dass der iranische Geheimdienst SAVAK die Poesieabende dulden werde, vermutet Sarfaraz.
Der Journalist will die Gelegenheit ausnutzen. Ihm schwebt nicht ein einzelner Abend mit einem Dichter vor, sondern etwas viel Größeres – etwas Weltbewegendes. Sarfaraz will fast die gesamte Geisteswelt des Landes auftreten lassen – eine Welt, die dem Schah-Regime wenn nicht total feindselig, so doch zumindest sehr kritisch gegenüber steht. Nicht eine Lesung, nein, es sollen mehrere Nächte sein, mit fast allen großen und bekannten Dichtern des Landes. Obwohl sie alle unter Beobachtung des Geheimdienstes stehen. Ein Schriftstellerverband, mit dem man Kontakt aufnehmen könnte, gibt es offiziell im Iran nicht. Fast alle bekannten Poeten und Publizisten identifizieren sich mit einem Verband, der in der Illegalität agiert. Mit diesem bespricht der Journalist seine Pläne.
„ Anfangs reagierten einige Dichter mit Skepsis, eine gewisse Verdächtigung lag in der Luft. Mancher vermutete sogar eine Falle des Geheimdienstes, die mit meiner Hilfe gestellt werden sollte“, beschreibt Sarfaraz heute die damalige Stimmung. Aller Skepsis zum Trotz sind sich aber alle einig, dass sich etwas machen ließe. Denn in der Welt weht ein vielversprechender Wind. Seit Anfang des Jahres regiert in den USA Jimmy Carter, ein Präsident, der bekanntlich die weltweite Achtung der Menschenrechte zum Kern seiner Außenpolitik erklärt hatte. Das Schah-Regime befände sich also in der Defensive, so die optimistische Einschätzung der iranischen Poeten.
Die Deutschen sind sauber
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