„Rette das Vaterland!“ – Druck auf Ex-Präsident Khatami

Kommt er oder kommt er nicht? Er muss kommen, weil er die letzte Rettung der Islamischen Republik sei, sagen seine Anhänger. Er darf nicht kommen, sagen seine Gegner, denn er verkörpere die Zersetzung des Gottesstaates von innen heraus. Der Druck auf den ehemaligen iranischen Präsidenten Mohammad Khatami wächst. Wie steht er zur Präsidentenwahl am 14. Juni? Boykottiert er sie oder kandidiert er gar selbst? Und wenn ja: unter welchen Bedingungen? Schweigen kann Khatami dazu jedenfalls nicht mehr lange. Denn die Appelle häufen sich und ihr Ton wird zunehmend dramatischer.
Der Iran stehe am Rande des Abgrunds. Bei der nächsten Wahl gehe es nicht nur um einen neuen Präsidenten, sondern um nicht mehr und nicht weniger als die Existenz des Vaterlandes. Das schrieben Mitte März siebzehn reformorientierte Gruppen an Khatami. Sie forderten ihn auf, seine „patriotische Aufgabe“ wahrzunehmen und bei der Präsidentenwahl zu kandidieren. Fast zur gleichen Zeit erhielt der Ex-Präsident eine schonungslose Analyse der Misere des Landes. 91 namhafte Reformer beschreiben darin die innen- und außenpolitische Krise des Iran, die bald in einer Katastrophe enden könnte. Auch die Unterzeichner der Analyse, zu denen Hadi Khamenei, der Bruder des iranischen Staatsoberhauptes, und Massumeh Ebtekar, Revolutionärin der ersten Stunde und einst Sprecherin der Geiselnehmer der amerikanischen Botschaft, gehören, bitten Khatami inständig, Verantwortung zu übernehmen und zu kandidieren. Sonst drohen der Zerfall des Landes und möglicherweise sogar ein Krieg.

Mutiger als alle anderen Aufrufe ist der Appell von Mostafa Tadjzadeh aus dem Teheraner Evin-Gefängnis. Denn der ehemalige Vize-Innenminister und enge Vertraute Khatamis darf sich eigentlich gar nicht zu dem Thema äußern. Nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 wurde er zu mehrjähriger Haftstrafe und einem zehnjährigen Betätigungsverbot in Medien und Politik verurteilt. Trotzdem ruft er jetzt dazu auf, Khatami zur Kandidatur zu drängen und am Arbeitsplatz oder im Stadtteil Unterstützungskomitees für ihn zu bilden. „Auch ich werde von hier aus ein virtuelles Wahlforum gründen“, schreibt Tadjzadeh. Sollten Khatami nicht zur Wahl zugelassen oder die Wahlergebnisse gefälscht werden, dann wäre der Revolutionsführer Khamenei persönlich verantwortlich, so Tadjzadeh, der selbst einst Landeswahlleiter war.
Signale und Grenzen der Nachgiebigkeit

Nach zwei Amtszeiten darf Mahmoud Ahmadinedschad nicht mehr kandidieren - Foto: iranvij.ir
Nach zwei Amtszeiten darf Mahmoud Ahmadinedschad nicht mehr kandidieren - Foto: iranvij.ir

Dass sich die Reformer dieser Tage so oft und offen äußern, dass sie sogar den sakrosankten Revolutionsführer in die Niederungen des Wahlkampfes herunterziehen dürfen, verdanken sie Khamenei selbst. Denn je näher der Wahltermin rückt, desto mehr signalisiert der eine gewisse Nachgiebigkeit. Er wolle eine hohe Wahlbeteiligung, damit der Feind begreife, worauf sich die Republik stütze, so Khamenei. An dieser Wahl sollten alle teilnehmen, die die politische Ordnung des Landes akzeptierten, der künftige Präsident solle eher die positiven als negativen Eigenschaften des jetzigen besitzen, sagte Khamenei im März in seiner Botschaft zum iranischen Neujahr. Der amtierende Präsident seinerseits trommelt laut und unaufhörlich für einen Wahlkampf eigener Prägung. Er verheißt einen „iranischen Frühling“ und verteilt Seitenhiebe und Sticheleien in allen Richtungen. Bei der bevorstehenden Wahl drohe für Khamenei eine unerträgliche Situation: „Hier der Kandidat des Präsidenten, dort der des Revolutionsführers.“ Einen solchen Lagerwahlkampf, also ein Kräftemessen mit Ahmadinedschad, will der Revolutionsführer aber mit allen Mitteln verhindern. Mit seiner Nachgiebigkeit versucht er daher mehrere Ziele gleichzeitig zu erreichen: einem möglichen Wahlboykott der Enttäuschten entgegenzuwirken, dem Lager Ahmadinedschads Konkurrenz zu verschaffen und dem Ausland die Massenverankerung der Islamischen Republik zu demonstrieren – was in Zeiten der Konfrontation sehr hilfreich sein kann.
 
Hardliner gegen Khatami
Aber wie dehnbar ist die neue Nachgiebigkeit des mächtigsten Mannes an der Spitze des Staates? Damit befassen sich dieser Tage die Deuter und Interpreten. Freitagsprediger, TV-Kommentatoren, Uni-Professoren und selbst die Spitzen der Revolutionsgarde erklären dem Volk, was die milde Geste des Revolutionsführers bedeutet und wo die Grenzen seiner Nachsichtigkeit liegen.
Aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentenwahlen im Juni: Ali Akbar Velayati, Berater des Revolutionsführers - Foto: afkarnews.ir
Aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentenwahlen im Juni: Ali Akbar Velayati, Berater des Revolutionsführers - Foto: afkarnews.ir

Für Hardliner wie den Teheraner Freitagsprediger Ayatollah Ahmad Janati ist die Sache eindeutig. Der Revolutionsführer habe mit seiner Rede weder die arrestierten ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Mir-Hossein Moussavi und Mehdi Karroubi noch den Ex-Präsidenten Khatami gemeint. Nur diejenigen Reformer dürften kandidieren, die sich öffentlich von den Unruhen nach der letzten Präsidentenwahl distanziert haben, deren Anführer verdammen und tätige Reue zeigen, so der mächtige Ayatollah – der auch Vorsitzender des Wächterrates ist und als solcher selbst die Eignung der Kandidaten, etwa ihre Loyalität zum islamischen System des Iran, prüft.
Bleiernes Klima
Zweifellos ist Khatami immer noch der beliebteste Politiker der Islamischen Republik, auch wenn er in seiner achtjährigen Amtszeit viele seiner Versprechen nicht einlösen konnte. Doch ob er diesmal tatsächlich zur Wahl antritt, ist ungewiss. Anfang März hatte er in einer Rede vor Studenten klare Voraussetzungen dafür genannt: die Freilassung politischer Gefangener, gleiche Chancen aller Kandidierenden in den Medien und Transparenz des Wahlvorgangs. Ob all diese Bedingungen bis zum Wahltag erfüllt werden, ist mehr als fraglich. Im Lager der Reformer mehren sich trotzdem die Stimmen, Khatami solle kandidieren. Denn allein ein Wahlkampf mit Khatami könne die bleierne Atmosphäre im Land verändern: Sogar wenn seine Kandidatur vom Wächterrat abgelehnt werde, verändere sie die politische Situation, sagt Mohammad Ali Ayazi, Professor für islamische Philosophie an der Universität Teheran. Er sei besorgt darüber, wie rasant sich Gleichgültigkeit in der Gesellschaft ausbreite, so der Geistliche, der keineswegs dem Lager der Reformer zugerechnet werden möchte.