Trauer als Widerstand – Über ein Symbol der revolutionären Bewegung im Iran

Auch Jina Amini wollten die Behörden eilig des Nachts begraben. Ihre Familie verhinderte es. Sie blockierte den Krankenwagen, in dem ihr Leichnam lag. Ihre Bestattungsfeier auf dem Aichi-Friedhof von Saqqez in der Provinz Kurdistan entwickelte sich zu einem Anti-Regime-Massenprotest, auf dem die Trauergemeinde „Tod dem Diktator“ und „Unser dummer Führer, unsere Schande“ rief; einige Frauen legten ihre Kopftücher ab. Die Bestattung mobilisierte zum Aufstand.

Die Anerkennung des Verlustes ihres natürlichen Körpers brachte Jina Amini als politischen „Körper“ hervor, der über den Tod hinaus wirksam ist. „Liebe Jina. Du stirbst nicht. Aus deinem Namen wird ein Symbol werden“, stand auf ihrem ersten Grabstein. Es sollte so kommen. In ihrer Abwesenheit entfaltet Jina Amini politische agency. Ihr Bild ist zur Referenz eines Protestes für das Leben, der Hashtag ihres Namens zum Schlagwort einer revolutionären Bewegung geworden. Die Todespolitik der islamischen Republik ist gescheitert; die Absicht, diese Tote noch einmal zu töten, wurde verfehlt. Es konnte nicht verhindert werden, dass aus dem toten Körper ein symbolisch-politischer wurde, der im Tod „nicht stirbt“, sondern aus dem Grab heraus Menschen affiziert und im politischen Prozess wirksam ist.

Trauer und Vulnerabilität

Roya Piraie am Grab ihrer Mutter, Minoo Majidi, die bei den Protesten in der Stadt Kermanshah getötet wurde
Roya Piraie am Grab ihrer Mutter, Minoo Majidi, die bei den Protesten in der Stadt Kermanshah getötet wurde – Foto: 1500tasvir

Was ist an der Trauer, dass sie Menschen zu Protest bewegen und vereinen kann? In welchem Verhältnis Trauer zum Sozialen steht, hat die feministische Philosophie am Begriff der Vulnerabilität aufgefächert. In dem Essayband „Gefährdetes Leben“ beschreibt Judith Butler Menschen als „sozial verfasste Körper“, die an andere gebunden und stets gefährdet seien, diese Bindung zu verlieren. Dass sie von Aufmerksamkeit und Zuwendung abhängig sind, dass sie verletzten und verletzt werden können, dass sie laut Butler von „Selbstbehauptung und Ungeschütztheit“ charakterisiert und für andere sichtbar sind, sei ihrer körperlichen Existenz eingeschrieben. Die Autonomie des Menschen hat ihre Grenze in dieser Vulnerabilität. In der Trauer drückt sie sich affektiv aus.

Der Schmerz eines Verlustes zeigt, dass das Selbst vom Anderen abhängig ist, das „Du“ Teil des „Ich“ ist. Trauer bringt, schreibt Butler, „die Beziehungsbande zum Vorschein“ und ein „Gefühl für politische Gemeinschaft einer komplexeren Ordnung“. Indem sie also auf unsere ontologische Verstricktheit verweist, legt sie ein „wir“ offen. Trauer ist, könnte man folgern und weiterdenken, eine Praxis der Verbundenheit, die sich in Beistand, Protest und anderen Formen der Vergemeinschaftung artikulieren kann.

Trauer als Widerstand

Schon, dass nicht jedes Leben betrauert wird, zeigt, dass Trauer politisch ist. Weil nach Butler „bestimmte Formen der Trauer nationale Anerkennung und Überhöhung erhalten, wohingegen andere Verluste zu etwas Undenkbarem und Trauerunwürdigem werden“, unterscheidet sie zwischen betrauernswürdigem und betrauernsunwürdigem Leben. In politischen Systemen wie der islamischen Republik wird ein offizieller Trauerkult wie der für die „Märtyrer“ der islamischen Republik, etwa den ehemaligen Kommandeur der Quds-Brigaden, Qassem Soleimani, von der Praxis einer staatlichen Todespolitik flankiert, die andere Leben für unwürdig erklärt, betrauert zu werden.

In einem solchen Regime ist es Widerstand, trotzdem Trauer zu zeigen und sich, wie die Frau in dem Video aus Kerman, öffentlich die Haare zu schneiden. Und mehr noch: Es ist eine solidarische Protestpraxis, die als unideologische Geste der Hinwendung zum anderen das Leben selbst meint und daher Menschen verbindet. Als Protestform und revolutionäres Symbol macht die Trauergeste nicht nur gegen die Todespolitik der islamischen Republik mobil, sondern bringt Verbundenheit, Achtung von Vulnerabilität und Anerkennung des Lebens als politische Werte in Zirkulation.♦

Dieser Artikel wurde zuerst  bei „Geschichte der Gegenwart“ veröffentlicht.  

*Kurzbiografie:

Dr. Dorna Safaian ist Bild- und Medienwissenschaftlerin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg. Ihre Arbeitsgebiete sind u.a. politische Bildwissenschaft, digitale Bildkulturen und Visuelle Kultur von Protest/sozialen Bewegungen. ♦

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