Zwischen Singlehaushalt und Seniorenheim – gesellschaftlicher Wandel im Iran
Die Jungen allein, die Alten auch: Dieser Trend setzt sich im Iran rasant durch. Im Gottesstaat weichen traditionelle Familienstrukturen auf, die Moderne – mit all ihren Schattenseiten – verändert das Leben der Menschen.
In nur wenigen Ländern tritt der Spagat zwischen traditionellen und modernen Lebensmustern so deutlich zutage wie in der Islamischen Republik Iran. Das Bild der Städte wird geprägt von Frauen und Männern, die trotz restriktiver Kleiderordnung und Verhaltensregeln die Grenzen des Möglichen austesten. Viele IranerInnen lassen sich von den konservativ-traditionellen gesellschaftlichen Dogmen, die der Gottesstaat in den 35 Jahren seiner Existenz in den Köpfen vieler seiner Einwohner zementiert hat, nicht mehr vorschreiben, wie sie ihr Leben zu leben haben.
„Früher stand immer die Ehe im Vordergrund. Jeder wollte schon mit 20 oder 21 Jahren heiraten. Es war wirtschaftlich notwendig, die Eltern haben es gewollt, und ebenso war der Druck der Gesellschaft da, heiraten zu müssen. Mittlerweile wollen wir diesen Schritt immer weiter hinauszögern, aber dennoch als Frau und Mann zusammen sein, wie man es aus anderen Teilen der Welt kennt“, sagt die 35-jährige Make-Up-Stylistin Shadi aus Teheran. Statistiken zufolge heiraten iranische Frauen heute im Schnitt erst mit 30, Männer mit 35 Jahren.
Viele Scheidungen, wenig Eheschließungen
Dass die Ehe für erwachsene IranerInnen nicht mehr unbedingt die einzige Lebensform ist, belegt auch die hohe Scheidungsrate. 2012 wurde mehr als jede sechste Ehe geschieden – Tendenz steigend. Und geheiratet wurde etwa 15 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Mehrere Ayatollahs und staatliche Organe sahen bereits „die heilige Institution Familie“ in Gefahr und verlangten von der Regierung, dem Problem auf den Grund zu gehen. Doch für die hohe Scheidungsrate und dafür, dass viele IranerInnen der Ehe ein Single-Dasein vorziehen, gibt es laut dem Teheraner Soziologen Kambiz Rahimi mehrere Gründe: „Durch die Politik der Ahmadinedschad-Regierung und die internationalen Wirtschaftssanktionen hat sich die finanzielle Lage der Privathaushalte dramatisch verschlechtert. Viele Menschen sind arbeitslos. Die Nerven liegen dann schon mal blank, worunter auch das Eheleben leidet“. „Exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum“ seien dann häufig „entscheidende Faktoren für das Scheitern einer Ehe“, so Rahimi.
Für die vielen Trennungen sei noch ein anderer Grund verantwortlich: „Den meisten Paaren ist vor der Ehe kaum möglich, sich ausreichend kennenzulernen“. Junge IranerInnen müssen sich heimlich verabreden, da die Gesetze der Islamischen Republik unverheirateten Frauen und Männern den Kontakt verbieten, wenn diese nicht miteinander verwandt sind.
Macht und Ohnmacht der Frau
Trotz dieser Entwicklungen sieht Rahimi die traditionellen Gesellschaftsstrukturen, die Frauen und Männer beeinflussen, noch nicht ganz verschwunden. Zwar sei seit den 80er Jahren die Zahl der Frauen, die einem Beruf nachgehen, stetig gestiegen – doch geschehe das zum Leidwesen derer, die eine eher patriarchalische Vorstellung von der Rolle der Frau haben. „Ihre größere Unabhängigkeit gab dem Selbstbewusstsein iranischer Frauen einen Schub“, so Rahimi. Doch ihr „legitimes Beharren auf eine gesellschaftliche Rolle jenseits traditionell-konservativer Vorstellungen“ stoße bei einigen Ehemännern und ihren Familien auf Widerstand. „Auch das ist ein Grund für die vielen Scheidungen“, so Rahimi.
Dass geschiedene Frauen es auch heute in der iranischen Gesellschaft nicht leicht haben, hat die Teheranerin Shadi selbst erfahren. Nach ihrer Scheidung habe sie „lange gebraucht, um wieder Fuß zu fassen“, erzählt die Mutter eines fünfjährigen Jungen. „Die Behörden haben mir permanent Steine in den Weg gelegt. Selbst das Finden einer Wohnung war für mich als Single-Frau schwer.“
Fehlende Kinderbetreuung
Und sie hatte nach ihrer Scheidung noch mit anderen Problemen zu kämpfen: „Ich hatte Probleme, meiner Arbeit nachzugehen, da ich für meinen Sohn keine Betreuung fand. Meine Eltern haben sich von mir distanziert, weil ich mich ihrer Meinung nach zu wenig um sie kümmerte. Deshalb haben sie es auch nicht eingesehen, auf meinen Sohn aufzupassen, während ich arbeiten gehe.“
Für Kambiz Rahimi kein Einzellfall: Viele IranerInnen hätten Schwierigkeiten, Beruf und Familie zu vereinbaren, was dem Betreuungsengpass im Iran geschuldet sei. Nicht nur Kindergartenplätze seien kaum vorhanden, auch pflegebedürftige Senioren stünden oft allein da. Besonders in kleinen Städten und Dörfern wiege das Problem schwer, „da die Jungen immer mehr in große Ballungszentren ziehen und ihre ältere Verwandtschaft zurücklassen“, so Rahimi. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Mohsen Rezaei klagte jüngst, iranische Dörfer glichen wegen der hohen Anzahl älterer BewohnerInnen immer stärker Seniorenheimen.
Jashar Erfanian