Politische Ökonomie eines Heiligen

Wie der Schrein behandelt wurde, habe sich kaum von anderen urbanen Orten mit Verkehrs- und Zugangsfragen unterschieden, sagt die Architektin und verweist auf die Rolltreppen, die in die mittelalterliche Architektur integriert wurden. Obwohl die Art, wie sich ein Pilger einem Heiligtum nähere – ob zu Fuß oder per Auto – die Bedeutung des Akts und die Wahrnehmung des Orts ändere, habe bei der Gestaltung ein pragmatischer Zugang vorgeherrscht mit dem Ziel, die Pilgerschaft möglichst effizient zu organisieren.
Es ist Mittag und die inneren Höfe haben sich mit Gläubigen für das Mittagsgebet gefüllt, die „Brüder“ auf der einen, die in schwarze Tschadors gehüllten „Schwestern“ auf der anderen Seite. Während von den Dächern der Gebetsruf hallt, eilen immer weitere Pilger über die schattenlosen äußeren Höfe heran, bis alle Plätze auf den Teppichen belegt sind, die schwarzuniformierten Wächter den inneren Bereich absperren und die Neuankömmlinge in die unterirdischen Hallen winken, die unter den alten Höfen errichtet wurden.
Irans Präsident ohne Einblick oder Kontrolle
Am Ausgang wartet Keyvan für eine Tour durch Maschhad. „Kennst Du eine andere Stadt, in der so viele Hotels auf so engem Raum stehen?“, fragt der Bauingenieur, während er seinen Wagen in den Verkehr einfädelt, und weist auf die Hoteltürme um den Schrein. Sie alle leben von den Pilgern, nicht wenige gehören „Astan-e Qods“. Doch nicht nur das: Die Stiftung besitzt auch Einkaufszentren, Fabriken, Banken; die Hälfte der Immobilien in der Millionenstadt ist in ihrer Hand und ein Großteil des Landbesitzes in der umliegenden Provinz Chorasan.
„Die Stiftung nimmt sich mit Gewalt, was sie will“, sagt Keyvan, der eigentlich anders heißt. Niemand könne sich ihr widersetzen, wenn sie Anspruch auf ein Grundstück oder Gebäude erhebe. Der Bauingenieur mit der randlosen Brille und dem kahlrasierten Schädel hat noch nie für sie gearbeitet, da ihre Bauaufträge nur über Kontakte zu bekommen seien. In der Stadt sei die Stiftung verhasst, wohltätige Arbeit mache sie nicht, sagt Keyvan. Dabei genießt die Stiftung deshalb eigentlich Steuerfreiheit und Autonomie gegenüber der Regierung.
Wie die anderen religiösen Stiftungen untersteht „Astan-e Qods“ Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei, wie die Tübinger Ethnologin Katharina Müller sagt, die zu den Strukturen der Stiftung forscht. Doch selbst Chamenei hat nur bedingt Mitspracherecht in der Stiftung, während der Regierung von Präsident Hassan Rohani jeder Einblick und jede Kontrolle fehlt. „Astan-e Qods“ sei kein ausführendes Organ der Regierung, betont Müller, sondern ein eigener, sehr selbstbewusster politischer Akteur, der in Politik und Wirtschaft einen eigenen Kurs verfolgt.

Im März ist zwar der langjährige Stiftungsvorsitzende Ayatollah Abbas Vaez-Tabbasi gestorben, der wegen seiner Machtfülle auch als „Imperator von Chorasan“ bezeichnet wurde. Ob Khamenei damit aber seine Kontrolle über die Stiftung stärken kann, wird sich noch zeigen müssen. Zwar wird der neue Vorsitzende Ebrahim Raisi kaum die Position seines Vorgängers erlangen können, der „Astan-e Qods“ durchgehend seit der Revolution 1979 führte, doch wird die Stiftung nach Ansicht von Müller schon darauf achten, ihre Eigenständigkeit zu bewahren.
Die Stiftung versteht sich als Hüter der Tradition und der Werte der Islamischen Revolution. Eine Liberalisierung von Politik und Kultur lehnt sie ab, und auch die Öffnung der Wirtschaft, wie sie von Präsident Rohani angestrebt wird, sieht sie kritisch. Dies liegt auch daran, dass eine Öffnung des Landes viele Firmen und Fabriken von „Astan-e Qods“ in ihrer Existenz bedrohen würde, da ihr ökonomisches Modell nur funktioniert, solange das Land abgeschottet und die Wirtschaft nicht der internationalen Konkurrenz ausgesetzt ist.
Keyvan bleibt draußen
Keyvan lenkt seinen Wagen zurück auf die unterirdische Ringstraße, die unter den äußeren Höfen um den Schrein führt. In dem Gestank der Abgase und dem Lärm der Autos ist kaum vorstellbar, dass sich nur wenige Meter entfernt das Grab des Imam befindet. Über die mehrspurige Schnellstraße, die von vier Seiten durch autobahnartige Zubringer erschlossen wird, verläuft ein Großteil des Verkehrs der Stadt. Von ihr gehen auch die unterirdischen Parkhäuser ab, von denen die Pilger direkt in das Heiligtum gelangen können.
Doch Keyvan bleibt lieber draußen. Wie viele junge Iraner ist der 33-Jährige vom Islam entfremdet. Zwar zeigt das Heiligtum von Maschhad wie stark der Glaube, wie wichtig der Islam noch immer für viele Iraner ist, doch belegen Studien seit Jahren auch, dass die Religiosität im Iran rückläufig ist, und sich gerade die junge Generation wegen des politischen Missbrauchs der Religion durch das Regime in Massen vom Islam abwendet.
Keyvan ist von der ständigen religiösen Propaganda genervt und der andauernden Präsenz der Mullahs in den Medien überdrüssig. Die Inbrunst der Pilger, wenn sie sich aus Trauer über den Tod des Imams weinend auf die Brust schlagen, ist ihm unangenehm, und die Schönheit der Architektur, das satte Gold der Kuppel, das tiefe Blau der Portale lassen ihn kalt. In den Schrein kommt er nur ein Mal im Jahr, wenn er seine Mutter zum Gebet begleitet. Wenn der Glaube das Kapital der Stiftung ist, hat Keyvan dazu nichts beizutragen.
   ULRICH VON SCHWERIN
© Qantara
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