Ade Revolution!

Als Ehrengast bei der Verleihung des Uwe-Johnson-Preises in Berlin sprach der iranische Schriftsteller und Dichter Javad Mojabi vergangene Woche über die Entwicklung der zeitgenössischen iranischen Literatur und die Wechselwirkung zwischen Literatur und Gesellschaft im Iran. Das Iran Journal veröffentlicht seinen Redebeitrag.

Die Literatur des Iran hat in den vergangenen hundert Jahren zwei Perioden erlebt. Die erste ist mittlerweile 60 Jahre alt und dauert noch an. Die zweite hat vor etwa 40 Jahren begonnen und ist noch in ihrem Findungsprozess.
Der Beginn der neuen literarischen und künstlerischen Bewegungen im Iran ist nicht getrennt vom literarischen und künstlerischen Geschehen in anderen Ländern zu betrachten – insbesondere nicht von den kulturellen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts im Westen. Aus der nationalistischen Bewegung, die bei uns wie überall zwischen den beiden Weltkriegen anzutreffen war, gingen im Iran zwei scheinbar paradoxe Aspekte des kulturellen Schaffens hervor. Auf der einen Seite besannen sich die iranischen Schriftsteller und Künstler ihrer kulturellen Wurzeln, um sich ihrer historischen Identität zu vergewissern. Andererseits beobachteten sie die kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen der progressiven westlichen Staaten genauer, um mit ihnen Schritt zu halten. Die Intensivierung der internationalen Verbindungen und die Übersetzung wissenschaftlicher und literarischer Werke aus Europa führten zu gegenseitigem Kennenlernen. Der iranische Staat unterstützte diese beiden Bestrebungen – die Entdeckung des eigenen kulturellen Erbes und das Bemühen um eine weitreichende Modernisierung der eigenen Gesellschaft.
Die iranischen Schriftsteller, allen voran die beiden ‌großen Erneuerer Mohammad Ali Dschamalzadeh und Sadegh Hedayat, schrieben die ersten an internationalen Vorbildern orientierten iranischen Erzählungen und Romane. Einige von ihnen stellten zwischen 1921 und 1981 wichtige Themen wie Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und das städtische Leben in den Fokus ihrer Beobachtung. Schriftsteller und Journalisten machten besonders auf fehlende soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit sowie auf die Notwendigkeit der Abschaffung der Klassendiskriminierung aufmerksam. Die waren die Hauptziele der konstitutionellen Revolution, die zwischen 1905 und 1911 stattfand.

Sehnsucht nach einer Revolution

Mit dem Aufbruch der nationalistischen und linksorientierten politischen Parteien im Iran nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Bekämpfung der Klassengesellschaft, der Kolonialisierung und des Despotismus, aber auch die Hoffnung auf eine befreiende Revolution zu dominierenden Themen der Werke.

Javad Mojabi bei der Verleihung des Uwe-Johnson-Preises in Berlin
Javad Mojabi bei der Verleihung des Uwe-Johnson-Preises in Berlin

 
Demokratische Bestrebungen hin zu einer tiefer greifenden Entwicklung der Gesellschaft fanden im Gegensatz zur Idee einer raschen utopischen Revolution weniger Beachtung. In einer Zeit ohne Gewerkschaften und politische Parteien übernimmt der Künstler im Kampf gegen die politische Macht und für die Freiheit die Rolle des engagierten Intellektuellen: Er fühlt sich verpflichtet, die unterdrückten Massen aufzuklären. Der Künstler macht diese Verpflichtung zur Grundlage seines Denkens und der Entstehung seiner Werke. Das Volk erwartet von ihm nichts anderes als die Erfüllung dieser künstlerischen Mission.
Die Übersetzung außeriranischer literarischer Werke, die die Gesellschaft zum zentralen Thema hatten, sowie die zunehmende Bekanntschaft mit den Büchern anderer freiheitlich denkender Künstler gehörten für die Generationen vor uns zu den Quellen der Inspiration. Die Schriftsteller dieser modernen revolutionären Strömung schufen Romane und Erzählungen, in denen für die Liebe zum Volk und zum Vaterland und gegen Rückständigkeit, Despotismus und die als eroberungslustig wahrgenommenen Fremden Partei ergriffen wurde. Sie sehnten sich nach einer rechtsstaatlichen, fortschrittlichen, wohlhabenden und mit anderen Kulturen gleichberechtigt interagierenden Gesellschaft. Diese Künstler wollten gestützt auf ihre eigene Literatur und Kultur das kulturelle Erbe der Menschheit auf der ganzen Welt kennenlernen, strebten Modernität und Freiheit an und wollten die gelebte Modernität in den westlichen Gesellschaften entdecken. Ihre geistigen Quellen lagen in einer ausgewogenen Mischung aus der Literatur des alten Iran und der zeitgenössischen Kunst, Literatur und den Geisteswissenschaften des Westens. Das war keine Folgsamkeit gegenüber dem Westen, sondern das Aufbauen auf dem menschlichen Erbe mehrerer Jahrhunderte, das sich nun im Westen befand.

Nach der Revolution

Die Generation, die seit den 1980er Jahren aktiv ist, hat die Revolution und den Irak-Iran-Krieg erlebt. Aufgrund der leicht zugänglichen digitalen Kommunikationsmittel und der Informationsexplosion seit den 90er Jahren beruft sie sich auf das globale Erbe der Menschheit, ohne sich dabei stärker auf das eigene kulturelle Erbe zu besinnen. Die Globalisierung und die Vereinheitlichung, die im Bereich Kultur unkompliziert und schnell erfolgt, verleiht den Werken der iranischen Schriftsteller seit den 80ern globale Züge.

Mohammad Ali Dschamalzadeh
Mohammad Ali Dschamalzadeh

Dadurch weisen diese Künstler Ähnlichkeiten mit jeder beliebigen Person an jedem beliebigen Ort der Welt auf.
Reichlich vorhandene Übersetzungen philosophischer Texte, wissenschaftlicher Essays und kulturtheoretischer Schriften, die Aufhebung ideologischer und politischer Grenzen, die Verbreitung moderner Kommunikationsmittel, allen voran das Internet, und die Flucht vor kultureller Isolation haben iranische Künstler und Schriftsteller zur kulturellen Annäherung an die Außenwelt getrieben.
Die Wirklichkeit der Kultur bewegt sich damit in der entgegengesetzten Richtung zur Politik.
Natürlich haben während der letzten vierzig Jahre auch die älteren Generationen, die das Erbe der konstitutionellen Revolution hüten und als gesellschaftsorientierte Utopisten gelten, parallel zu den jüngeren, die nach Angleichung und Harmonie mit dem Rest der Welt streben, Werke geschaffen und veröffentlicht. Die Koexistenz solch unterschiedlicher Ansichten und Verfahren im kulturellen Bereich hat zur Stärkung der Toleranz innerhalb der Gesellschaft beigetragen.

Was die neue Generation beschäftigt

Im Großteil der literarischen Werken der vergangenen vierzig Jahren finden sich folgende Inhalte: erstens ein Bewusstsein für den Tod. Diese Einstellung hat zwar in unserer Gesellschaft ihre Wurzeln in der Mystik – nämlich in dem Sinne, dass der Tod der Beginn des ewigen Lebens ist. Jedoch verwoben die Schriftsteller den Tod mit einer starken Wertschätzung für das kurze irdische Leben, denn während dieser Epoche war der Tod in der iranischen Gesellschaft aufgrund der Revolution und des Krieges sehr präsent und für zum Greifen nah.

Sadegh Hedayat
Sadegh Hedayat

Zweitens: das Vermeiden von Ideologien bis hin zur Politikverdrossenheit. Von den politischen und gesellschaftlichen Motiven der älteren Werke, deren Schöpfer dem Kollektiven mehr Raum einräumten als dem Individuum, blieb kaum etwas. Die jüngeren Autoren legen mehr Wert auf das „Ich“ und die Selbsteinkehr. Drittens: Die starke Frauenbewegung der letzten Jahrzehnte brachte Hunderte Künstlerinnen und Schriftstellerinnen hervor, die quantitativ nicht mit der Zeit vor den 80er Jahren zu vergleichen sind. Sie thematisieren ihre individuellen und gesellschaftlichen Forderungen mit Klarheit, Bestimmtheit und ohne Übertreibung. Viertens: Vermeidung des Provinzialismus. Die jungen Schriftsteller fühlen sich der geografischen Grenzen entbunden und beschreiben eine weltbürgerliche Atmosphäre, die nicht mehr die Identität eines bestimmten Territoriums widerspiegelt.
Zum Schluss möchte ich hervorheben, dass die junge Generation im Iran die Modernität und die heutige Welt besser wahrnimmt als die älteren Generationen das getan haben. Dies manifestiert sich auch in öffentlichen Aktivitäten wie etwa bei Wahlen oder Protesten. Ihre Forderung nach Toleranz, die gegen Gewalt agiert, ihr verhaltener Humor, der gegen Dogmatismus und Fanatismus eingesetzt wird, ihre Geduld, ihr Ehrgeiz und ihr Selbstbewusstsein, die Abkehr von Emotionalität und die Hinwendung zu einer neu gefundenen Rationalität: All dies charakterisiert die Globalisierung einer neuen Generation. Allerdings sind diese Eigenschaften in den literarischen Werken noch nicht so präsent wie es ihnen gebührte. Entscheidend ist aber: Diese Generation möchte eine Kultur, die mit den Kulturen der ganzen Welt in einen lebendigen und aktiven Dialog treten kann. Diese Generation möchte lernen und lehren.
Meinen kurzen Vortrag möchte ich mit einem Zitat von Uwe Johnson schließen, das genauso von einem iranischen Autor dieser jungen Generation stammen könnte: „Ein Roman ist keine revolutionäre Waffe. Er bringt nicht unmittelbare politische Wirkung hervor. Die taktischen Aussichten sind ärmlich, strategische kaum nachweisbar.“♦

Javad Mojabi

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