„Spotlight“ auf islamisch:Sexueller Missbrauch im Iran

Im Frühjahr 2010 besuchen zwei Jugendliche im Alter von 18 und 17 Jahren den Teheraner Freitagsprediger Ayatollah Sadighi. Ihm erzählen sie in allen Einzelheiten, was sie vier Jahre zuvor als Koranschüler erlebt haben und wie sie von Said Toussi wiederholt sexuell missbraucht worden seien. Den einflussreichen und landesweit bekannten Prediger Sadighi bringt die detaillierte und glaubwürdige Schilderung der Jugendlichen so auf, dass er sofort einen ihm bekannten Richter in der 15. Strafkammer des iranischen Verwaltungsgerichtes anruft und die beiden Jungen noch am selben Tag zu ihm schickt.

Der Richter wird tätig, und innerhalb weniger Wochen melden sich noch weitere 14 Jugendliche bei ihm, die bereit sind, sich entweder der Anklage anzuschließen oder als Zeugen aufzutreten. Es dauert fünf Monate, bis der Vernehmungsrichter schließlich eine 83-seitige Akte zusammengestellt hat, in der die Aussagen der Opfer ebenso vorhanden sind wie die des Beschuldigten. In der Akte befinden sich auch mehrere CDs, auf denen kompromittierende Aussagen von Toussi festgehalten sind. Das Gericht lässt eine Klage zu. Hier taucht auch ein Geistlicher auf, in dessen Anwesenheit Toussi eine so genannte Reueerklärung unterschreibt.

Im Iran werden junge Knaben in Koranschulen schon im zarten Alter an das richtige und zugleich schöne und musikalische Rezitieren herangeführt
Im Iran werden junge Knaben in Koranschulen schon im zarten Alter an das richtige und zugleich schöne und musikalische Rezitieren herangeführt

Als Revolutionsführer Khamenei von der Affäre erfährt, wird die Akte zu einer anderen Kammer und von dort zum Chef der iranischen Justizbehörde persönlich weitergeleitet.

Damit beginnt eine Odyssee der Opfer durch das Labyrinth der iranischen Justiz, die fünf Jahre dauert und an deren Ende sie erfahren, dass die Ermittlungen eingestellt worden seien. Im vergangenen Juni aber erzählen sie ihre Geschichte einem Reporter, der in einer kurzen Notiz auf einer Webseite andeutet, es gebe eine gewisse Akte über einen bekannten Koranrezitator.

Und hier taucht eine weitere Parallele zum oscarprämierten Film „Spotlight“ auf. Auch dort war es eine kurze Meldung, die den neuen Chefredakteur des Boston Globe zu weiteren Recherchen bewegte. Nun ist journalistische Recherche im eigentlichen Sinne des Wortes in der Islamischen Republik zwar ein Fremdwort, doch einige Webseiten trauten sich, weitere Hinweise zur Tat und zum Täter zu geben.

Beschuldigter droht mit Enthüllungen

Als Toussi die Gefahr erkannte, soll er einem Journalisten gedroht haben, er werde Hunderte Personen mit sich in den Abgrund ziehen, sollte in dieser Sache nicht Ruhe einkehren. Und das ist keine leere Drohung. Toussi weiß, was hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wird: Hinter den Mauern der religiösen Schulen, die junge Knaben beherbergen, geschehe viel Unzüchtiges. Doch jene Ruhe, die der Koranrezitator sich wünscht, will sich trotzdem nicht einstellen.

Recherche der verbannten Journalisten

Vor zwei Wochen beschäftigte sich Voice of America 45 Minuten lang mit diesem Skandal. Erstmals schilderten die Ex-Koranschüler dort dessen unappetitliche Einzelheiten in der Öffentlichkeit. Sie berichteten ausführlich über ihr Leid, ihre fünfjährige Odyssee durch die iranische Justiz, und schließlich über ihren Entschluss, sich den persischsprachigen TV-Sendern im Ausland zu öffnen.

Ein mutiger Schritt in jeder Hinsicht. Denn öffentlich zuzugeben, längere Zeit Opfer sexuellen Missbrauchs gewesen zu sein, bedeutet Selbstvernichtung – zumal die Zusammenarbeit mit „Feindsendern“ im Iran an sich strafbar ist. Doch BBC Persian und andere TV-Kanäle beschäftigten sich ebenfalls mit der Affäre. Seitdem ist ein wahrer Sturm der Entrüstung im Gange.

Die Welle der Reaktionen schwappt über

Es würde unzählige Seiten füllen, wollte man alles wiedergeben, was die Repräsentanten der Islamischen Republik in den vergangenen Tagen zu diesem Skandal beisteuerten.

Vergangene Woche sagte Generalstaatsanwalt Mohseni Edjei auf einer Pressekonferenz: „Die Anklage wegen sexuellen Missbrauchs wurde eingestellt.“ Gegen den Angeklagten werde aber wegen Verbreitung von Unmoral ermittelt. Die Missbrauchsklage sei nicht möglich, weil Zeugen der Tat fehlten, so der Staatsanwalt. Nach islamischem Recht müssen vier „gerechte Männer“ Zeugen einer Tat sein, um eine Schuld feststellen zu können. Sonst steht Aussage gegen Aussage.

Zwei Tage vor ihm hatte der Vizeminister für Kultur und islamische Führung die Justiz aufgefordert, die Wahrheit herauszufinden. Zugleich warnte er alle Geistlichen, ihre Verfehlungen würden den gesamten Islam in Verruf bringen. Einen Tag danach dementierte der mächtige Chef der Justizbehörde Ayatollah Laridjani in einer zornigen Rede, er hätte die Einstellung der Ermittlungen angeordnet, und drohte allen, die das behaupten, mit Gefängnisstrafen.

Der einflussreiche Ayatollah Makarem Schirazi sagte am vergangenen Mittwoch, selbst das Reden über diese Affäre sei eine Sünde.

Das war genau der Tag, an dem Präsident Hassan Rouhani Hillary Clinton und Donald Trump vorwarf, sie hätten keine Moral. Doch die Debatte über Unmoral im eigenen Land nimmt auch so kein Ende. Man braucht nur die Wörter سعید طوسی (Said Toussi) zu googeln, um zu erfahren, wie fast stündlich jemand etwas zu der Affäre beisteuert.

Die Leistung der Exilierten

Gäbe es diese heftige Debatte und den Sturm der Entrüstung auch ohne die persischen TV-Kanäle im Ausland? Undenkbar. Die Welt ist eben heute kleiner, als viele denken: Im 21. Jahrhundert müsse ein Journalist nicht mehr unbedingt am Ort des Geschehens sein, um seinen Job ordentlich zu erledigen, schreibt ein Kommentator auf der Webseite Zeitoon. Das sei Balsam auf die Wunde, die das Exil hinterlassen habe, „ein Ansporn, um nicht zu resignieren“, antwortet ihm ein anderer Journalist.

  ALI SADRZADEH

Quellen:

ir.voanews.com/a , news.gooya.com/politics/archives , zeitoons.com , www.dw.com/fa , radiofarda.com/a/f4
radiofarda.com/a/o2 , radiozamaneh.com/304917