Gebetszwang für SchülerInnen

In wenigen Tagen enden im Iran für Millionen SchülerInnen die Sommerferien. Künftig soll in den Schulen nicht nur gelernt, sondern auch mehr gebetet werden. Keine gute Idee, finden ExpertInnen.

Für knapp 12 Millionen junge IranerInnen fängt in wenigen Tagen das neue Schuljahr an. Auch die 17-jährige Hengameh aus Teheran muss bald wieder die Schulbank drücken. Auf  die Gymnasiastin wartet eine nicht unwesentliche Veränderung: Wie das Bildungsministerium am 4. September verkündete, wird an iranischen Schulen das Schulgebet zur Pflicht. Mindestens eine halbe Stunde sollen alle SchülerInnen von nun an für das tägliche Beten aufwenden, so Mohammadreza Mosayebzadeh, ein hoher Funktionär des Ministeriums. „Alle Verantwortlichen müssen sich darum bemühen, die SchülerInnen für das Gebet zu begeistern“, so Mosayebzadeh. Der bisherige Umgang an den Schulen mit der Gebetspflicht sei „sehr unbefriedigend für das islamische System“.
Die Oberschülerin Hengameh lässt sich von dieser Neuerung nicht aus der Fassung bringen. Für sie werde sich wahrscheinlich nicht viel ändern, glaubt die junge Teheranerin. „Über viele Jahre hinweg haben wir jungen Leute gelernt, die Verbote und Zwänge, die Politik und Gesellschaft uns auferlegen, zu umgehen“, sagt sie lächelnd. Auch das obligatorische Schulgebet werde da „keine Ausnahme sein“.
“Wichtigere Anliegen“

An 55.000 der insgesamt 104.000 iranischen Schulen wird das Schulgebet bereits praktiziert
An 55.000 der insgesamt 104.000 iranischen Schulen wird das Schulgebet bereits praktiziert

Das Beten in der Schule ist in der Islamischen Republik nichts Neues. Neu ist aber, dass die Schulen nun verpflichtet werden, dafür Sorge zu tragen, dass alle SchülerInnen zu bestimmten Zeiten zum Gebet antreten. An 55.000 der insgesamt 104.000 iranischen Schulen wird das Schulgebet bereits praktiziert. Das soll sich nun ändern, zudem sollen auch die anderen Schulen nachziehen, an denen es bis jetzt keine Möglichkeit zum Schulgebet gab.
Dabei gibt es aus der Sicht von KennerInnen des iranischen Schulsystems wichtigere Anliegen, um die sich das Bildungsministerium kümmern müsse: „Vielen Schulen fehlt es an der nötigsten Ausstattung“, sagt etwa Karim Faramarzi, Pädagoge und ehemaliger Schulleiter, im Gespräch mit TFI. Besonders in den abgelegeneren Provinzen des Landes seien nicht wenige Schulgebäude mitsamt ihrer Einrichtungen marode. „Kaputte Tafeln, kaputte Tische, kaputte Stühle, kaputte Heizungen – damit sind zahlreiche LehrerInnen und SchülerInnen im Iran seit Jahren konfrontiert“, so Faramarzi: „Die Anstrengungen des Bildungsministeriums sollten sich lieber auf die Beseitigung dieser Missstände konzentrieren, als auf die Förderung der Frömmigkeit der Kinder und Jugendlichen.“ Die „Reform“ des Bildungsministeriums sei zudem schwer zu realisieren, meint der ehemalige Schulleiter: „Wo soll denn gebetet werden, wenn es nicht mal genug Räume für den Unterricht in unseren Schulen gibt?“ Wegen Platzmangels aufgrund der hohen Zahl von SchülerInnen werde an vielen Schulen bereits in Schichten unterrichtet. „Wenn das Bildungsministerium tatsächlich Geld investieren will, dann bitte nicht in den Bau von Gebetsräumen, wenn doch der Schuh ganz woanders drückt“, so Faramarzi.
Zwang macht nicht frömmer
Ein Experte: „Wo soll denn gebetet werden, wenn es nicht mal genug Räume für den Unterricht in unseren Schulen gibt?“
Ein Experte: „Wo soll denn gebetet werden, wenn es nicht mal genug Räume für den Unterricht in unseren Schulen gibt?“

Auch Faramarzi glaubt nicht so recht daran, dass die Initiative des Bildungsministeriums von Erfolg gekrönt sein wird: „Wenn die politischen und religiösen Verantwortlichen eine Sache nicht geschafft haben, dann die, die Menschen mit Zwang zum Glauben zu führen.“ Iranische Frauen seien durch die Pflicht, Kopftuch zu tragen, schließlich auch „nicht frömmer geworden“, sagt der Pädagoge.
Der Teheraner Psychologe Babak Ahmadi ist sogar der Überzeugung, dass die neue Maßnahme des Bildungsministeriums SchülerInnen schaden könnte: „Viele iranische Familien sind säkular geprägt. Unter dem eigenen Dach spielt Religion für diese Menschen keine Rolle. Das erleben auch die Kinder in diesen Haushalten. Wenn nun die religiöse Atmosphäre an den Schulen, in denen die Kinder mehrere Stunden des Tages verbringen, zunimmt, kann das besonders für Kinder im Grundschulalter eine große seelische Belastung darstellen.“ Sie könnten nicht verstehen, warum die eigene Familie ein gänzlich anderes Lebensmodell verfolge als das, welches in der Schule als Ideal propagiert werde, so Ahmadi.
Für die 17-jährige Hengameh wird die religiösere Atmosphäre wohl keine psychische Belastung darstellen. Leicht besorgt ist sie aber schon: „Ich hoffe, dass weiterhin schulische Leistungen und nicht die Frömmigkeit der SchülerInnen ausschlaggebend für die Benotung sein werden“, sagt sie.
  JASHAR ERFANIAN