Eine „Generation der Bastarde“ – Wilde Ehen im Gottesstaat 

In den iranischen Großstädten, vor allem in der Hauptstadt Teheran, wächst die Zahl junger Paare, die ohne Trauschein zusammenleben. Vor allem gebildete Frauen empfinden die Ehegesetze als Gefängnis. Junge Männer können sich eine Heirat aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten. Von offizieller Seite wird die steigende Zahl wilder Ehe als Gefahr für die nationale Sicherheit angesehen. Die höchste Stelle der Staatsmacht ist alarmiert.

Von Ali Sadrzadeh

„Warum denn weiß?“, fragt sich ein Leser der persischen Webseite Tabnak. „Alles Illegale wird doch mit schwarz verbunden wie etwa Schwarzmarkt oder Schwarzgeld. Warum sprechen wir hierzulande von ‚weißer Ehe‘, wenn Männer und Frauen ohne Trauschein zusammenleben?“
Nicht nur über die Farbe, sondern auch über Ursachen, Folgen und Gefahren der so genannten „weißen Ehe“ wird in den iranischen Medien nunmehr seit zwei Wochen vehement diskutiert. Für die Eingeweihten in der Islamischen Republik ist das Phänomen der „weißen Ehe“ nicht neu. Doch seit dem 7. Dezember weiß fast jede Iranerin und jeder Iraner, dass der Gottesstaat damit ein ungeheuerliches Problem hat, das – vor allem in den Großstädten – unaufhörlich größer und „gefährlicher“ wird. Denn an diesem Tag sprach Ayatollah Mohammad Mohammadi, einer der engsten Vertrauten des Revolutionsführers Ali Khamenei, mit zornbebender Stimme so offen über das Thema, dass am nächsten Tag alle Zeitungen und Webseiten es aufgreifen mussten; ein „Problem“, für das nun jeder glaubt, eine Erklärung oder Lösung gefunden zu haben.

Polizei gegen „Bastarde“

Der 69-jährige Mohammadi, Schwiegervater von Khameneis Tochter, ist nicht nur der Büroleiter des mächtigsten Mann des Iran. Er gilt in der Öffentlichkeit zugleich als sein offizielles Sprachrohr. „Es ist beschämend, dass wir in der Islamischen Republik diese große Schande haben, die man beschönigend ‚weiße Ehe‘ nennt. Sie wird allmählich zum üblichen Verhalten vieler junger Leute. Geht es so weiter, wird es bald eine Generation von Bastarden geben“, sagte Mohammadi bei der Einweihung einer Mädchenschule nahe der Hauptstadt Teheran. Er forderte Justiz und Polizei auf, mit aller Macht gegen diese „Unsitte“ vorzugehen, die via Satellitenfernsehen aus dem Westen komme und die Fundamente iranischer Familien und der Gesellschaft untergrabe.

Wie diese „Unsitte“ in der westlichen Welt zu einer allseits akzeptierten Normalität wurde, weiß Mohammadi aus nächster Nähe und eigener Erfahrung. In jungen Jahren lebte er in Hamburg und erwarb dort Ende der 60er Jahre an der Außenalster ein Grundstück, auf dem später eine prächtige schiitische Moschee gebaut wurde. Nach der Gründung der Islamischen Republik besuchte er als Waffenkäufer für die iranische Luftwaffe viele europäische Städte und soll dabei in London eine zum Islam konvertierte Britin kennengelernt haben, die er als seine zweite Frau mit nach Teheran nahm.

Die „islamisierte Prostitution“

Ob Polizei und Justiz allein allerdings der „weißen Ehe“ Herr werden können, wie der Ayatollah es fordert, bezweifeln sogar eingefleischte Radikale. Die studentische Nachrichtenagentur ISNA, die der paramilitärischen Organisation Revolutionsgarde nahesteht und für ihre Sozialreportagen bekannt ist, berichtete kürzlich vom Selbstversuch ihres Reporters, der sich inkognito auf die Suche nach dem Phänomen „Zeitehe“ begeben hat.
„Ihr glaubt es nicht: Dies ist die islamische Republik, trotzdem gibt es 300 Internetportale, wo Männer und Frauen jeglichen Alters schnell, preiswert und erfolgreich für eine befristete Zeit verkuppelt werden“, beginnt der Reporter seine Reportage. „Wie ist so etwas trotz umfassender Internetzensur möglich?“, fragt er sich weiter und versucht, das zu erklären: Fast alle diese Webseiten schmückten sich mit Koranversen und beriefen sich auf irgendeinen Ayatollah, der die Zeitehe lobt, und gäben sich so einen legalen Anstrich. Der Reporter erfährt, wie leicht, schnell und günstig er „die Passende“ samt dem nötigen Stundenhotel finden kann. Er beschreibt sein überaus amüsantes Feilschen über Preis und Person und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei diesen Angeboten nicht um eine Ehe auf Zeit, wie sie den Schiiten erlaubt ist, sondern schlicht um Prostitution handele.
Der Reporter wendet sich auch an die Behörde für Internetzensur und erfährt dort, warum solche Internetportale nicht geschlossen werden. Durch die Segnungen der Gelehrten hätten sie einen legalen Anstrich, würden oft von einflussreichen Geschäftsleuten betrieben und außerdem gehörten sie zu der sogenannten „Kategorie CF“, das heißt: Sie sind nicht politisch und stünden deshalb nur sporadisch unter behördlicher Kontrolle. Daher können sie mit der Änderung ihrer IP-Adresse ihr Geschäft weiterbetreiben. Der Reporter findet zudem heraus, dass der Betreiber einer Seite, die Paare sogar stundenweise verkuppelt, selbst Beamter der Justizbehörde ist, und auf seinem Portal sogar aus den Familiengesetzen zitiert, um den Schein der Legalität zu untermauern.

Gefängnis Ehe

Dabei seien es oft gerade diese Gesetze, weshalb gebildete StädterInnen die Ehe mit Trauschein ablehnten. Hinzu kämen erdrückende gesellschaftliche Normen sowie wirtschaftliche Hindernisse, so der Soziologe Mehrdad Darwisch Pour von der Universität Stockholm. Die Braut soll die unumstößlichen Rechte des Mannes akzeptieren: Scheidungsrecht, das alleinige Sorgerecht für gemeinsame Kinder und viele andere Privilegien im Alltag. Ohne Zustimmung ihres Gatten darf die Ehefrau nicht ins Ausland reisen, keinen Beruf ausüben, kein Studium beginnen. Vom Bräutigam wird ebenfalls oft Unmögliches erwartet: ein guter Beruf, ein eigenes Haus und eine ausreichende Brautgabe, damit die Frau im Falle einer Scheidung auskömmlich abgesichert ist – und das in einem Land, in dem die Jugendarbeitslosigkeit um 50 Prozent pendelt. Und als ob all das nicht genug wäre, müssen die Jungvermählten mit ständiger Einmischung ihrer Familien rechnen.
„Die normale Ehe empfinden viele junge Leute, vor allem gebildete Frauen, als ein Korsett, ein Gefängnis, das es zu vermeiden gilt“, sagt der Sozialpädagoge Said Peyvandi von der Universität Paris. Und dieses Gefühl breite sich in den städtischen Milieu ständig weiter aus, weil die Zahl gebildeter Frauen stetig steige, so Peyvandi. 60 Prozent der etwa vier Millionen iranischer Studierender sind Frauen.

„Ermordung“ des Gesetzes

Welche unglaublichen Wege Frauen beschreiten, um dem „Gefängnis Ehe“ zu entkommen, beschreibt die Frauenrechtlerin und Juristin Mehrangiz Kar am Beispiel eines ihrer Beratungsfälle: Sie ist Chemikerin, er Universitätsprofessor. Kennengelernt haben sich die beiden an der Universität, sie genießen einen relativen Wohlstand, doch die Ehe wird für die Frau zunehmend unerträglich. „Immer noch liebe ich ihn so sehr, dass ich mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen kann“, schreibt die Ratsuchende. Der Mann ist fachlich unter den Kollegen anerkannt und beliebt, er ist nicht religiös, doch in der privaten Beziehung konservativ bis reaktionär: „Er verfolgt mich auf Schritt und Tritt, beobachtet penibel meine beruflichen Kontakte und bei täglichen Streitereien beharrt er unentwegt auf seinen gesetzlichen Privilegien und Rechten, obwohl er kein Gläubiger ist“, schreibt die Frau. Die Familienrechtlerin zeigt ihr einige Möglichkeiten, was sie selbst im Rahmen der iranischen Justiz erreichen könnte, doch die Antwort der Chemikerin ist erstaunlich: „Ich habe das Gesetz ermordet, denn es ist nur für die Männer da. Aus dem Labyrinth der islamischen Gesetzgebung erwarte ich keine Gerechtigkeit, deshalb habe ich beschlossen, ihn um die Scheidung zu bitten, damit wir dann als geschiedene und freie Leute unter einem Dach zusammenleben können. Denn erst als freie Frau kann ich mir sicher werden, wie tief ich ihn tatsächlich liebe, und auch er wird als freier Mann beweisen müssen, dass er mich liebt, in dem er keine neue Beziehung eingeht. Die Rettung unserer Beziehung liegt in einer ‚weißen Ehe‘.“
„Innerlich muss ich ihr wohl voll zustimmen“, sagt die Familienrechtlerin Kar. Doch es gebe für eine Juristin nichts Schlimmeres, als die „Ermordung des Gesetzes“ richtig zu finden.

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