Die Hürden der Justiz: Warum Vergewaltigungsopfer in Iran kaum Gerechtigkeit finden
In den vergangenen Wochen sorgte die Festnahme eines ehemaligen Fußballspielers und bekannten Film- und Fernsehschauspielers wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung für Schlagzeilen in Iran.. Laut Angaben seines Anwalts wurde der beschuldigte Schauspieler zunächst gegen eine hohe Kaution freigelassen; das Urteil steht noch aus. In den sozialen Netzwerken diskutieren Nutzer*innen seither erneut über die Schwierigkeiten, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen im iranischen Justizsystem anzuzeigen. Der folgende Artikel, der 2021 auf der Plattform aasoo erschien, untersucht im Gespräch mit Expert*innen und Betroffenen die Hürden der juristischen Verfolgung von sexuellen Straftaten.
Von Maryam Foumani
Immer, wenn jemand seine Erfahrung mit sexueller Gewalt öffentlich macht, kommt unweigerlich die Frage: „Warum hast du denn keine Anzeige erstattet? Gibt es in diesem Land keine Gesetze?“
Samaneh, damals 22 Jahre alt, gehört zu jenen, die es versucht haben. „Im Jahr 2016 war ich Studentin in unserer kleinen, konservativen Stadt. Eines Abends gegen sechs Uhr nahm ich ein Sammeltaxi, um nach Hause zu fahren. Zunächst war ich allein, dann stiegen zwei weitere Männer zu, einer vorne, einer setzte sich hinten neben mich. Unser Campus lag außerhalb der Stadt, die Straße dorthin war menschenleer. Der Mann neben mir schloss die Fenster, bat den Fahrer, die Klimaanlage einzuschalten – und verriegelte plötzlich die Türen. Er drückte meinen Kopf unter den Sitz. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Es war, als würde ich aus dem Himmel stürzen, in Zeitlupe, endlos. Kurz darauf hielten sie an, nahmen einen vierten Mann auf – und dann vergewaltigten sie mich zu viert. Ich erinnere mich glücklicherweise nicht an alle Details. Stunden später warfen sie mich in der Nähe meines Viertels aus dem Wagen. Meine Augen waren verbunden, aber ich schaffte es, einen Teil des Kennzeichens zu sehen. Zu Hause konnte ich niemandem etwas sagen. Körperlich fühlte ich mich wie nach einem schweren Unfall, seelisch war ich zerstört.“
Einige Tage später fasste sie den Mut, Anzeige zu erstatten. Sie wusste, dass sie sich an das Polizeirevier des Tatorts wenden musste. „Der Leiter hörte sich meine Geschichte an und sagte: ‚So was passiert nicht einfach so. Du musst irgendwas getan haben.‘ Dann schickte er mich zu einem Beamten weiter. Als ich ihn bat, das Verfahren vertraulich zu behandeln, lachte er und sagte: ‚Jetzt hast du deinen Spaß gehabt, und weil der Typ dich sitzen ließ, willst du, dass alles geheim bleibt?‘ Ich erklärte ihm, dass mein Vater ein sehr konservativer Mann sei, der mich umbringen würde, wenn er davon erfährt – egal, ob ich schuld bin oder nicht. Der Polizist drohte, er werde die Nummer meines Vaters herausfinden. Ich hatte genauso große Angst vor ihm wie vor den Vergewaltigern.“
Samaneh versuchte, der Polizei Hinweise zu geben – das Teilkennzeichen, den Ort, die Beschreibung des Fahrers –, doch die Beamten lachten sie aus. „Glaubst du, du bist in Amerika, dass wir Überwachungskameras prüfen?“ Nach Wochen der Erniedrigung und ohne dass überhaupt eine Akte angelegt wurde, gab sie auf. Ihre Anzeige erreichte nie das Gericht. Die Ermittlungsbeamten, die den Fall hätten aufnehmen und weiterleiten müssen, blockierten sie so lange, bis sie entmutigt aufgab.
Die Anwältin Kimiya Nowparast, die ähnliche Fälle betreut, betont, wie entscheidend familiäre Unterstützung ist. In einem vergleichbaren Fall habe die Familie des Opfers voll hinter der Tochter gestanden – die Täter seien rasch identifiziert und verhaftet worden; gegen den Haupttäter sei die Todesstrafe verhängt worden, das Urteil befinde sich noch im Berufungsverfahren.
Kriminalisierung von Opfern
Wer diese erste Hürde überwindet, trifft auf ein Strafrecht, das Vergewaltigung unter dem Begriff „Zinā be-‘onf“ – erzwungener Geschlechtsverkehr – fasst. Die Juristin Laleh Ahmadi, die viele solcher Fälle betreut, sagt: „Das Gesetz ist lückenhaft. Es ist extrem schwierig, sexuelle Gewalt zu beweisen, und Frauen, die Anzeige erstatten, riskieren selbst eine Verurteilung.“ Denn laut Artikel 221 des sogenannten Islamischen Strafgesetzbuchs gilt ein sexueller Übergriff nur dann als Vergewaltigung, wenn es zu einer vollständigen Penetration kommt. „Selbst wenn der Täter mit der Hand oder einem Gegenstand Gewalt ausübt, zählt das juristisch nicht als Vergewaltigung“, sagt Ahmadi.
Die Beweisführung sei besonders heikel: Nach islamischem Recht sollen Ermittlungen in sogenannten „unsittlichen Fällen“ unterbleiben, um die „Ehre des Gläubigen“ zu schützen. Nur wenn das Opfer selbst Anzeige erstattet, wird überhaupt ermittelt – es muss dann aber die Zwangslage des Geschlechtsverkehrs beweisen. Gelingt das nicht, drohen dem Opfer selbst Anklagen wegen „Ehebruch“, „falscher Beschuldigung“ oder „Verleumdung“. Außerehelicher Sex ist in der Islamischen Republik verboten und wird mit 100 Peitschenhieben bestraft. Viele Betroffene fürchten daher, sie könnten statt ihrer Peiniger selbst verurteilt werden.
Rechtsanwalt Mousa Barzin Khalifehlou erklärt: „Juristisch sollte schon die Tatsache, dass ein Opfer Anzeige erstattet, als Indiz dafür gelten, dass der Geschlechtsverkehr unfreiwillig war.“ Dennoch bleibe das Risiko, dass Gerichte die Anklage als „Ehebruch“ oder „Verleumdung“ werteten. Diese rechtliche Unsicherheit hat dazu geführt, dass viele Frauen, die im Zuge der iranischen #MeToo-Bewegung ihre Täter öffentlich benannt haben, keine juristischen Schritte wagten – aus Angst vor Gegenklagen oder gesellschaftlicher Stigmatisierung.
Laut Juristin Ahmadi werten Gerichte oft den bloßen Umstand, dass sich eine Frau mit einem Mann allein getroffen hat, als Zustimmung zum Geschlechtsverkehr. „Ich hatte einen Fall, in dem die Klägerin und der Täter eine Woche vor der Tat zusammen in einem Café waren. Der Mann legte ein gemeinsames Foto vor – und das Gericht entschied, das beweise ihre Einwilligung.“ Ein Ausnahmefall war zuletzt das Verfahren gegen einen Mann, der Freundinnen und Bekannte in seine Wohnung einlud, ihnen Schlafmittel in den Wein mischte und sie vergewaltigte. Hier schuf die Polizei ausnahmsweise eine „sichere Zone“ für die Opfer und versprach, niemand werde wegen Alkoholkonsums oder „unislamischen Verhaltens“ belangt. Nur so wagten viele Frauen, Anzeige zu erstatten. Dutzende meldeten sich schließlich.
Nach Angaben der Rechtsanwältin Nowparast kann die Zahl der Klägerinnen entscheidend sein: „Wenn mehrere Frauen denselben Täter beschuldigen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gericht die Klage ernst nimmt.“ Denn die „Überzeugung des Richters“ gilt im iranischen Recht als Beweis – und viele Richter benötigen bei einer Vielzahl ähnlicher Aussagen keinen formellen Beweis durch Zeugen oder Geständnisse mehr.
„Verurteilt die Täter – aber nicht zum Tod“
Selbst wenn ein Verfahren eröffnet wird, endet es selten in gerechter Weise. Nach iranischem Strafrecht steht auf Vergewaltigung die Todesstrafe. Viele Betroffene verzichten deshalb auf eine Anzeige – nicht, weil sie keine Gerechtigkeit wollen, sondern weil sie keine Hinrichtung wollen, vor allem, wenn der Täter aus dem eigenen Umfeld stammt.
„Ich und viele meiner Mandantinnen lehnen die Todesstrafe ab“, sagt Ahmadi. „Wir halten sie für unmenschlich. Doch wer in Iran Gerechtigkeit sucht, steht vor einer zermürbenden Justiz, vor familiären Zwängen und gesellschaftlichen Tabus. Manche geben auf – andere kämpfen weiter, in der Hoffnung, dass eines Tages die Mauern fallen und die Gesetze sich ändern.“
Vergewaltigung als Foltermethode in Gefängnissen
Die juristischen Hürden wiegen umso schwerer, weil sexuelle Gewalt in Iran auch als Werkzeug der Machtausübung dient – insbesondere in Gefängnissen. Die Geschichte von Roya, einer ehemaligen politischen Gefangenen, zeigt, wie weit die Straflosigkeit reicht. „Während eines besonders langen Verhörs fingen die beiden Ermittler an, mich zu beschimpfen. Dann kam einer auf mich zu und griff mir an den Körper. Ich schrie, sie schlugen mich, warfen mich in eine Ecke des Raumes und vergewaltigten mich gemeinsam. Einer hielt meine Arme, der andere meine Beine. Als sie fertig waren, kam der Wärter, sah mich halb nackt am Boden liegen und brachte mich zurück in die Zelle.“
Nach ihrer Freilassung suchte Roya drei Gynäkologinnen auf; alle bestätigten innere Verletzungen, doch keine wagte, das schriftlich zu bezeugen. Sie hatte Panikattacken, Albträume, Depressionen. „Die Verhörer hatten mich gewarnt: Wenn du redest, glaubt dir niemand – und du landest wieder hier.“ Als sie später im Gericht ihre Vergewaltigung erwähnte, schrie der Richter sie an: „Du verleumdest das System!“ Am Ende erhielt sie sechs Jahre Haft – die Höchststrafe, die das Gesetz für ihren Anklagepunkt vorsieht.
„Nicht schweigen“
Trotz aller Risiken raten Juristinnen und Aktivistinnen den Betroffenen, Beweise zu sichern: Kleidung, Verletzungen, ärztliche Gutachten. Selbst wer sich zunächst keine Anzeige zutraut, kann so später seine Glaubwürdigkeit stützen.
Laleh Ahmadi bleibt überzeugt: „So schwer es auch ist – Schweigen hilft nur den Tätern. Die #MeToo-Bewegung hat gezeigt, dass die Gesellschaft bereit ist, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Jetzt ist die Zeit, gemeinsam den nächsten Schritt zu gehen: für eine Reform der Gesetze und eine Justiz, die Opfer schützt – nicht bestraft.“
Quelle: aasoo.com
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