Die Freiheit hinter Gittern

„Heutzutage ist das Gefängnis vielleicht ein sichererer Ort für Menschen wie dich und mich als irgendein anderer Ort im Iran.“ Das schreibt der inhaftierte iranische Journalist Bahman Ahmadi Amouie aus dem berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis an seine Frau, die Menschenrechtsaktivistin Jila Baniyaghoub.  Der Brief ist eine Liebeserklärung – und ein Dokument der Situation derjenigen, die die Grüne Revolution im Iran mitgetragen haben und nun in den Gefängnissen der Islamischen Republik weiter auf Freiheit hoffen.
 
Hallo liebe Jila,
ich sitze gerade im Hof der Abteilung 350 des Evin-Gefängnisses und starre vor mich hin. Der Holzstuhl hat gebrochene Armlehnen. Seit einer Woche regnet es und es gibt nicht einmal einen Hauch von Sonne. Die Wolken sind so dicht, als ob sie ihre gesamte Ladung hier loswerden wollen.
In diesen regnerischen Tagen verbringen wir ganze Tage und Nächte im Zimmer in unserem Alleinsein im Bett, dem einzig privaten Ort für uns Gefangene aus der Abteilung 350. Wir sind 18 Personen in diesem Zimmer; man kann hier nicht mal einen Tee trinken, ohne die anderen zu stören. Noch dazu ist anscheinend das Heizöl zur Neige gegangen. Es gibt kein warmes Wasser und ich habe mich seit ein paar Tagen nicht gewaschen. In diesen Tagen denke ich viel öfter an die Zeiten auf der anderen Seite dieser hohen Mauern und an die Zeit mit dir.
Heute habe ich mir gedacht, dass es vielleicht nicht schlecht wäre, dich als Vorwand zu nehmen und für dich zu schreiben, um von mir zu sprechen und meine Gefühle zwischen diesen dicken hohen Mauern auszudrücken.
Siehst du, Jila, wie egoistisch die meisten von uns Männern sind; sogar wenn wir mit unseren Frauen reden wollen, stellen wir uns und unsere Probleme in den Mittelpunkt.
Wir reden hier immer wieder über neue Themen. Jedes Mal, wenn ich von dir rede, erzähle ich meinen Freunden, dass durch Jila meine Einstellung zu den Ereignissen und gegenüber den Menschen vertieft worden ist. Ich habe von ihr gelernt, Details besser zu erkennen, viel zu lesen und dies strukturiert und thematisch. Ich habe dir Vieles zu verdanken, wie z. B. hier zu sein, was ja eines der wichtigsten und wertvollsten Kapitel meines Lebens ist.
Vielleicht, wenn du nicht gewesen wärest, wäre ich vor Jahren anderswo gelandet und nicht hier in der Abteilung 350 des Evin-Gefängnis neben den besten, aufrichtigsten und auserwählten Kindern unseres Landes. Jetzt aber kann ich auf diese Art zu leben stolz sein und meinen Kopf hochhalten. Jawohl, ein politischer Gefangener zu sein gibt dir ein solches Gefühl.
Mauer – Mauer – Mauer! Überall wo ich hinschaue, sehe ich Mauern. Diese 50 cm dicke rote Mauer mir gegenüber, so als ob jeder Zentimeter davon über ein Jahrzehnt unseres Lebens erzählt. Was für Ereignisse sind in unserem Land in den vergangenen 50 Jahren geschehen! Man sagt, dieses Gefängnis ist in den Fünfzigerjahren gebaut worden.

Bahman Ahmadi Amoui und seine Frau Jila Baniyaghoub. Foto: www.rahesabz.net
Bahman Ahmadi Amoui und seine Frau Jila Baniyaghoub. Foto: www.rahesabz.net

Es ist so, als ob wir alle, alte und neue Insassen dieses Gefängnisses, gleichzeitig hier wären. In jeder Ecke dieses Gefängnisses sind Erinnerungen verborgen. Ich sitze neben der Mauer und berühre ihre kalten Backsteine, in der Hoffnung, etwas zu fühlen.
Gestern Morgen gab es Gerüchte, dass es – zum ersten Mal seit ein paar Tagen – lauwarmes Wasser in unserer Abteilung gebe. Wir alle bildeten eine Schlage vor dem Waschraum. Ich habe eine Szene gesehen, die mich unwillkürlich aufschreien ließ. Es war so, als ob die ganze iranische Gesellschaft da wäre, das gesamte politische Spektrum: Mohsen Mirdamadi, Gouverneur und ehemaliger Parlamentarier, hatte seine Waschsachen in der Hand und sprach mit ein paar linksorientierten Jungen. Javad Lari von den Volks-Mujaheddin war beim Tellerwaschen, Faizollah Arab-Sorkhi duschte seinen Schweiß nach der Morgengymnastik ab. Alireza Rajai, ein national-religiöser Aktivist, klopfte auf meinen Schultern und sagte: „Du bist als Letzter an der Reihe.“
Jila, in den Jahren zuvor waren wir alle so weit weg voneinander und sind einander jetzt so nah! Ich weiß nicht, aber ich glaube, jetzt, nach dreißig Jahren Krieg und Zorn, sind wir alle endlich zusammen. Wir sind alle zusammen, obwohl wir im Gefängnis sind. Ist das nicht auch die eigentliche Absicht der grünen Bewegung?
Jetzt gibt es die Gelegenheit, mehr miteinander zu sprechen, was wir bis heute unterlassen  hatten. Wir waren einander alle Feinde geworden und beschimpften uns gegenseitig als ungehorsam, ungläubig, als Ketzer, als Diebe der Volksrevolution und so fort.
Vor ein paar Tagen wurde Amin Niaifar ausgepeitscht. Er ist 22 Jahre alt und wiegt nicht einmal 45 Kilo, ist sehr dürr und schmächtig. Als dieser Student der Ingenieurwissenschaften von der Teheraner Universität in unser Zimmer gebracht wurde, haben Kameraden im Scherz zu ihm gesagt, in den paar Monaten, in denen er hier sei, müsse er richtig auf sich aufpassen und viel essen, um seine Unterernährung zu kompensieren.
Die blauen Spuren der Peitschenhiebe auf seinem Rücken stachen uns in die Augen, wir wussten nicht, was tun; ein paar andere Kameraden aus anderen Zimmern haben ihn in unserer Zelle besucht. Wir haben ein wenig erzählt und gelacht, um ihn aus seiner schrecklichen Stimmung zu befreien.
Übrigens, Jila, ich muss dir etwas Interessantes erzählen, das ein Vorwand ist, um mich noch mehr an dich zu erinnern; in solchen Momenten stelle ich mir dich vor. Es geht um ein interessantes Ereignis, das sich jeden Freitagnachmittag hier abspielt. Ein wöchentliches Programm namens „kultureller Ausflug“, geleitet durch Ali Malihi, einen gefangenen Studenten. Mit Ausflug ist aber nicht etwa ein Ausflug in der Natur gemeint, nein! Wir versammeln uns freitagnachmittags in dem 200 Quadratmeter großen Hof und stellen uns, ganz gemäß dem Namen des Programms, vor, wir wären in der Natur. Manche rezitieren Gedichte und manche singen Lieder und Hymnen; danach jubeln wir denjenigen, die gesungen und rezitiert haben, zu. Wir versuchen, laut zu jubeln. Weißt du warum? Vielleicht hast du schon gehört, dass seit kurzem weibliche politische Gefangene unsere Nachbarinnen geworden sind. Wir applaudieren heftiger und schreien lauter vor Freude, um unsere Freude mit diesen zu teilen und ihnen zu zeigen, dass es uns immer noch gibt und dass wir „immer noch unzählig sind“.
Ibrahim Madadi, Arbeiter-Aktivist, begrüßt alle laut in der Hoffnung, dass die Frauen seine Begrüßung hören, obwohl wir uns nicht sicher sind, ob sie uns hören können.
Manchmal stelle ich mir dich vor neben ihnen allen; neben Bahare Hedayat, Nasrin Sotudeh, Atefeh Nabavi, Mehdieh Golru und den anderen.
Wir hören manchmal ihr Lachen und ihre Freude von der anderen Seite der Mauern. Dann freuen wir uns sehr darüber, dass sie auch Freude empfinden – vielleicht wollen sie ihre Freude auch mit uns teilen.
Manchmal sage ich mir, heutzutage ist das Gefängnis vielleicht ein sichererer Ort für Menschen wie dich und mich als irgendein anderer Ort im Iran. Zumindest weiß man, wenn wir hier morgens aufstehen, dass es jemanden gibt, der uns zweimal zählt; auch wenn manchmal Fehler beim Zählen unterlaufen und wir noch eine Runde mehr gezählt werden müssen!
Aber wirklich, wenn draußen ein paar Menschen verschwinden, werden sich einige freuen. Ich glaube deshalb, dass wir hier sicherer sind, und es wäre nicht schlecht, wenn auch du von dieser Sicherheit Gebrauch machen würdest.
Jila! Du glaubst nicht, was für Menschen in den vergangenen Wochen verhaftet und hierher gebracht wurden. Zum Beispiel ein LKW-Fahrer und ein 75jähriger Mann. Sie beide sagen, dass sie zu Hause die Nachrichten der islamischen Republik geschaut hatten, die davon berichteten, dass in diesem Jahr die Inflationsrate und die Arbeitslosigkeit gesunken seien und sich die Lebensbedingungen des Volks verbessert hätten. Die beiden konnten diese Lügengeschichten nicht mehr aushalten, jeder hat einen Filzstift genommen und ist auf die Straße gegangen, um Parolen gegen diese Lügen auf die Wände zu schreiben. Der 75-Jährige wurde in seinem Pyjama hierher gebracht.
Auch ein Professor der Universität Isfahan ist hier. Er sagt, dass sein Unterricht aufgezeichnet worden sei. Danach wurde ihm vorgeworfen, dass seine Worte Propaganda gegen das System darstellten. Nach 35 Tagen Isolationshaft in Isfahan und Teheran ist er heute in unsere Abteilung gebracht worden.
So, Jila! Was soll ich noch sagen? Du weißt selber, dass für jemanden wie mich, der in einer provinziellen Kultur großgeworden ist und auch noch von der Bakhtiaren (einer Volksgruppe im südwestlichen Iran, Anm. d. Übersetzerin) abstammt, die Offenbarung seiner Gefühle nicht so einfach ist. Vielleicht habe ich meine Gefühle deshalb zwischen diesen Zeilen versteckt. Ich habe drauflos geredet, um dir zu sagen, dass du immer sehr nachsichtig und liebevoll zu mir warst, und auch, dass Du das größte Ereignis meines Lebens bist.
 
Der Autor:

Bahman Ahmadi Amouie wurde nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen von 2009 verhaftet. Der mit dem Hellman-Hammett-Menschenrechtspreis ausgezeichnete Journalist wurde „wegen Aktivität gegen die nationale Sicherheit und Beleidigung des Präsidenten“ zu fünf Jahren Haft verurteilt. Amouie arbeitete nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften als Journalist für verschiedene reformorientierte Zeitungen wie Tous, Nourooz, Shargh und Sarmaaye. Er war zuletzt Chefredakteur des Online-Magazins Khordad Nou und kritisierte in vielen Artikeln die Wirtschaftspolitik der Regierung Ahmadinedschad.