Das angekündigte Scheitern
Die Hoffnung auf eine Öffnung der iranischen Gesellschaft schwindet rapide. Mit seinem Lavieren zwischen den Fronten demonstriert Präsident Hassan Rouhani seinen Anhängern ebenso wie seinen Gegnern, wie machtlos er ist.
Wiederholt sich die Geschichte? Wird auch Hassan Rouhani, wie einst sein Vorvorgänger Mohammad Khatami, sein Reformprojekt begraben müssen? „Alle neun Tage hatte ich eine nationale Krise zu meistern“, hatte Khatami zwei Monate vor dem Ende seiner achtjährigen Amtszeit (1997 – 2005) als Präsident des Iran gegenüber Studenten der Universität Teheran wie um Entschuldigung bittend gesagt. Kettenmorde an Schriftstellern und Journalisten, die Schließung von 72 Zeitungen durch die Justizbehörde an einem einzigen Tag – das waren die Beispiele, die Khatami für seine Machtlosigkeit damals anführte: „Bei all diesen Aktionen hatten unsere Gegner die Unterstützung höherer Stellen“, so der damalige Präsident.
Dass Khatami damit Revolutionsführer Ali Khamenei und die ihm ergebenen Gruppen und Institutionen meinte, war und ist ein offenes Geheimnis. Den Preis für diese Offenheit zahlt Khatami bis heute. Seit dem Ende seiner Amtszeit darf er den Iran nicht verlassen. Er wird zu keiner offiziellen Veranstaltung oder Audienz eingeladen, vor drei Wochen durfte er nicht einmal den erkrankten Khamenei im Krankenhaus besuchen, obwohl er darum gebeten hatte. Seine öffentlichen Genesungswünsche beantworteten khameneitreue Zeitungen und Webseiten mit Häme und Hohn. Wozu die Enttäuschung über Khatami und seine Amtsführung führte, ist bekannt: der Wahlboykott der Reformer, der Sieg Mahmud Ahmadinedschads und dessen achtjährige Amtszeit, die das Land bis zu jenem Abgrund führte, vor dem Rouhani es nun bewahren will. Ob ihm das gelingt, ist noch offen. Denn er hat dieselben mächtigen Gegner wie Khatami – obwohl Rouhani sich im Gegensatz zu diesem nie als Reformer verstand.
Wahlversprechen bleiben Versprechen
Rouhani ist mit Gegnern konfrontiert, die politisch und wirtschaftlich sehr mächtig sind, sogar mächtiger als zu Zeiten Khatamis. Denn sie haben die achtjährige Amtszeit von Präsident Mahmud Ahmadinedschad effektiv genutzt, sind bestens vernetzt und ausgerüstet, verfügen über ausreichend finanzielle Ressourcen und haben in den wichtigen Institutionen des Landes Schlüsselpositionen inne.
Das alles weiß wahrscheinlich niemand besser als Rouhani selbst, der seit Bestehen der Islamischen Republik ausschließlich im Milieu der Geheimdienste tätig war. Er zeigt deshalb auch keine Eile bei der Umsetzung seiner Wahlversprechen. Weder die Freilassung politischer Gefangener noch die Aufhebung des Hausarrest gegen die Oppositionsführer Mehdi Karrubi und Mir Hossein Moussavi noch die Umsetzung der Pressefreiheit gehören zu seinen Prioritäten. Und wenn er dazu befragt wird, leugnet er die Tatsachen und nimmt dabei auch Blamagen in Kauf, wie seine letzte Reise nach New York zeigte.
„Kein Journalist sitzt im Iran im Gefängnis“
Dort geriet ein Interview mit der iranischstämmigen CNN-Journalistin Christiane Amanpour Rouhani zu einem Desaster mit bleibender Wirkung. Denn was der Präsident in diesem Gespräch sagte, wirft ein grelles Licht auf die Grenzen seiner Macht ebenso wie auf seine Persönlichkeit und seinen Umgang mit der Wahrheit. „Ich glaube nicht, dass im Iran irgendjemand im Gefängnis sitzt, weil er Journalist ist“, hatte er auf die Frage Amanpours geantwortet, ob zu hoffen sei, dass Jason Rezaian, Korrespondent der Washington Post im Iran, und seine Frau Yeganeh Salehi bald aus dem Gefängnis entlassen würden.
Rezaian, der neben der US-amerikanischen auch die iranische Staatsbürgerschaft besitzt, sitzt seit Ende Juli ohne offizielle Anklage in Haft. Bis jetzt hat sich die Justiz wenig und wage über seinen Fall geäußert. Zuletzt sagte der allmächtige Generalstaatsanwalt Gholamhussein Mohseni Edzehi am 9. September, die Vernehmungen dauerten an, der Journalist bleibe in Haft. Auch Rouhani konnte oder wollte in dem Interview nicht sagen, warum der Korrespondent inhaftiert ist. Doch seine wahrheitswidrige Aussage, im Iran säße kein Journalist wegen seiner Tätigkeit im Gefängnis, sorgte im In- und Ausland für Kopfschütteln und Hohn.
In einer Liga mit Nordkorea, Somalia und Syrien
135 iranische Journalisten antworteten Rouhani darauf in einem offenen Brief, er solle, „anstatt die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, seinen Versprechungen in Bezug auf freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit und mehr Sicherheit für Journalisten nachkommen“. Sie erinnerten ihn daran, dass aktuell 58 Journalisten und Blogger allein aufgrund ihrer Tätigkeit im Gefängnis sitzen und 25 von ihnen in seiner Regierungszeit festgenommen wurden. Der Iran steht in der Rangliste der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ unter 180 Länder auf Platz 173 in Sachen Pressefreiheit – und befindet sich damit in einer Liga mit China, Syrien, Somalia, Nordkorea und Turkmenistan.
Da Rouhani dagegen nichts unternehmen kann oder will, schwindet die Hoffnung vieler seiner Wähler. Dafür legen seine radikalen Gegner, die die Geheimdienste und die Justiz kontrollieren, einen Zahn zu. Gegen eine mögliche Einigung im Atomkonflikt dürfen die Hardliner auf Geheiß des Revolutionsführers nicht opponieren. Dafür haben sie nun die westliche Kultur ins Visier genommen, die angeblich dabei sei, den Iran zu unterwandern. Dabei haben sie die volle Unterstützung Khameneis.
Frauen als Objekte der Rache
Es gibt seit 20 Jahren kaum eine öffentliche Rede des Revolutionsführers, in der er nicht vor den Gefahren der „Verwestlichung“ warnt und den Kampf gegen Erscheinungen der westlichen Kultur in der iranischen Öffentlichkeit zur religiösen Pflicht erklärt. In einfache Sprache übersetzt, heißt das für seine Anhänger: Sitzt das Kopftuch zu locker, steckt darunter eine Gegnerin der Gottesordnung. Und es vergeht seit Monaten kaum ein Tag, an dem sich nicht irgendein radikaler Abgeordneter, Freitagsprediger oder Leitartikler über das Verhalten von Frauen in der Öffentlichkeit und deren lässige Kleidung äußert.
Auf dem Höhepunkt der Diskussion verkündete Mitte August die Gruppe Anssar Hesballah – Unterstützer der Partei Gottes -, die Situation auf den Straßen der Großstädte sei unerträglich geworden. Die islamischen Kleidervorschriften würden absichtlich missachtet, der Auftritt vieler Frauen in der Öffentlichkeit sei eine Beleidigung für die Gläubigen und eine demonstrative Opposition gegen die Islamische Republik. Es sei daher die Pflicht der Gruppe, dagegen vorzugehen. Ihre Motorradeinheit mit 4.000 Maschinen würde zunächst die Frauen in Teheran auf die Kleidervorschriften hinweisen – und diese Hinweise würden mehr sein als nur eine mündliche Warnung.
Erst als der Innenminister den Generalsekretär von Anssar Hesballah empfing und ihm erklärte, die Regierung werde selbst tätig werden, ließ die Gruppe von ihrem Vorhaben ab. Dafür nahmen sich radikale Abgeordnete des Themas an. Seitdem wird im Parlament über eine Gesetzesvorlage mit 28 Paragraphen debattiert, die jedem Gläubigen erlaubt, auf Missachtung der islamischen Vorschriften in der Öffentlichkeit hinzuweisen. Käme es dabei zu Streitigkeiten, so der Gesetzesvorschlag, dann habe die Regierung den „Hinweisenden“ zu unterstützen. Drei Paragraphen der Vorlage sind bereits verabschiedet. Die Debatte über die weiteren Paragraphen dauert an.
Engagierte Befürworter der Gesetzesvorlage sind dabei die Abgeordneten aus der Stadt Isfahan. Auch Mohammad Taghi Rahbar, der landesweit bekannte und einflussreiche Freitagsprediger dieser Stadt leistet regelmäßig von seiner Kanzel aus Schützenhilfe, oft spektakulär und brutal. Frauenfragen sind für den 80-jährigen Geistlichen, der zehn Jahre lang seine Stadt im Parlament vertrat, eine Art Steckenpferd. Per Gesetz wollte er etwa Frauen das Studium außerhalb ihres Wohnorts verbieten. Mitte September sagte der Prediger bei einer Freitagspredigt, die Zeiten guter Worte für die Einhaltung der islamischen Kleidervorschriften seien vorbei, man müsse nun die nassen Stöcke herausholen. Früher züchtigten besonders grausame Lehrer ihre Zöglinge mit Stöcken, die sie zuvor eine Weile in Wasser getaucht hatten.
Seit einem Monat trifft nun die Frauen in Isfahan eine grausamere Nässe: Säure. Oobwohl die Verantwortlichen weder zu Opferzahlen noch zu möglichen Tätern konkrete Angaben machen können, betonen sie alle, dass die Säureattacken mit der Debatte um die islamischen Kleidervorschriften nichts zu tun hätten – und jeder, der anderes behaupte, auf einer Welle reite, die ausländische Medien wie BBC,Voice of Amerika oder gar „zionistische Medien“ initiiert hätten.
Präsident Rouhani meldete sich am vergangenen Freitag dazu zu Wort: Er bedauerte die „unmenschlichen Aktionen“, erklärte sich solidarisch mit den Opfern und forderte die zuständigen Ministerien sowie den Geheimdienst auf, koordiniert nach den Tätern zu suchen. Am kommenden Sonntag werde sich sein Kabinett mit der Angelegenheit befassen.
In der Stadt Isfahan, die viele ausländische Touristen anzieht, herrschen derweil Angst und Ratlosigkeit. Junge Frauen trauten sich kaum allein aus dem Haus, viele Studentinnen mieden die Universität, berichten Augenzeugen. Die Angreifer scheinen zumindest vorläufig erreicht zu haben, was sie wollten: die Verbannung der Frauen aus der Öffentlichkeit.
Das Lavieren Rouhanis in dieser Affäre ist ebenso exemplarisch für seine einjährige Amtszeit wie das Agieren der Radikalen, die zu allen Gräueltaten bereit sind. Die Hardliner haben mit den Angriffen klargestellt, dass Rouhanis Gleichung nicht aufgehen wird. Es dürfe und werde zu keiner Öffnung der Gesellschaft kommen, so die Botschaft, auch nach einem Atomabkommen mit dem Westen nicht. In einer solchen Atmosphäre wird Rouhani im kommenden Jahr die Wahl der Expertenversammlung überstehen müssen, die möglicherweise den nächsten Führer der Islamischen Republik bestimmt. Und Monate später stehen die Parlamentswahlen an, für die sich die Radikalen schon jetzt warm laufen.
ALI SADRZADEH
Auch dieser Artikel kann Sie interessieren: Eine Regierung auf vermintem Gelände