Brot oder Raketen? – Die Islamische Republik am Scheideweg
In Iran gilt die Sorge der „Menschen auf der Straße“ dem Überleben – die Sorge der Islamischen Republik dagegen dem „Überleben des Systems“. Beide Seiten kämpfen um Existenz, doch die großen Bühnen, Plakatwände, Lautsprecher und Fernsehkanäle spiegeln nur Letzteres wider.
Von Ali Rassouli
„(Das Land) muss militärisch vorankommen, und mit göttlicher Hilfe arbeiten unsere Soldaten Tag und Nacht – und werden, so Gott will, noch weiter voranschreiten.“ Dieser Satz stammt aus einer Rede, die Ali Khamenei, Oberster Führer der Islamischen Republik, am 3. November gehalten hat. Es war eine durch und durch politische Ansprache, die die Grundlinien der Machtpolitik der Islamischen Republik in der derzeitigen Phase des „Weder-Kriegs-noch-Friedens“ mit den USA und Israel offenbart hat.
Nach dem zwölftägigen Krieg mit Israel und der erneuten Aktivierung des Sanktionsmechanismus („Snapback“) steht Iran vor einer doppelten Krise: einer Krise der Wirtschaft und der Abschreckungskraft. In seiner Rede am 3. November verlor Khamenei kein einziges Wort über die wirtschaftlichen Probleme des Landes oder deren Bewältigung. Die Lösung der aktuellen Misere, so Khamenei, liege in der „Stärkung des Systems“ – und diese Stärke verknüpfte er umgehend mit militärischer Macht. Die Armee arbeite entschlossen, sagte er.
Mit dieser Botschaft machte er klar: Aus seiner Sicht gefährden nicht Wasser-, Strom- und Gasengpässen, Inflation, Bodensenkungen und Luftverschmutzung das Überleben der Islamischen Republik. Ohne sie auch nur beim Namen zu nennen, erklärte er sie zu Verwaltungsproblemen der Regierung – fernab seiner eigenen Zuständigkeit. Die Regierung solle „in den jeweils zuständigen Bereichen“ ihre Arbeit tun.
Für den Obersten Führer bedeutet „Stärke“ in dieser Lage vor allem eines: militärische Stärke. Der Beweis für die Stärke des Systems liegt für ihn weiterhin in den Rauchspuren der Raketen am Himmel.
Szene 1: Krisen, Krisen, Krisen
Seit Monaten vergeht kaum ein Tag ohne neue Meldungen über Irans Wirtschaftskrise: Über 45 Prozent Inflation, 24 Millionen Menschen in absoluter Armut lauten die offiziellen Zahlen, dazu Warnungen vor dem Zusammenbruch der Strom- und Wasserversorgung, eine beispiellose Dürre, die selbst Behördenvertreter inzwischen als „Katastrophe“ bezeichnen. Präsident Masoud Pezeshkian spricht offen über mögliche Wasser-Rationierungen in Teheran ab Dezember – und schließt selbst eine Evakuierung der Hauptstadt im Falle ausbleibender Regenfälle nicht aus.
Eine Evakuierung? Wohin? Mit welchem Geld, welcher Infrastruktur? Und wovon sollen Millionen Geflüchtete aus Teheran leben?
Die Islamische Republik hat darauf keine Antwort. Seit Langem beschränkt sich ihre Führung auf die Beschreibung von Krisen. Lösungsansätze oder gar Handlungsfähigkeit sind auf keiner Ebene erkennbar – weder in der Regierung noch im Parlament, dessen Reden nur noch hohl klingen. Und selbst leere Versprechen sind rar geworden; vielleicht, weil niemand mehr die Energie für solch nutzlose Rituale hat.
Der Ökonom Madjid Mirlatifi warnt inzwischen in regimetreuen Medien: Fleisch und Huhn würden bald zum Luxus, selbst Brot und Joghurt würden in wenigen Monaten für viele unerschwinglich sein. Nicht, weil es sie nicht gibt – sondern weil das Geld fehlt, sie zu kaufen.
Gleichzeitig fordern Militärs und ihnen nahestehende Medien unablässig höhere Verteidigungsetats, große Rüstungsprogramme und die Produktion neuer Generationen ballistischer Raketen. Salar Velayatmadar, Mitglied des Parlamentsausschusses für Nationale Sicherheit und Außenpolitik, erklärt, das Parlament habe erkannt, „dass die Stärkung der Verteidigungs- und Sicherheitskapazitäten in dieser sensiblen Lage der Region“ oberste Priorität habe. Der Verteidigungsausschuss plane daher eine „erhebliche Erhöhung“ des Militärbudgets im nächsten Staatshaushalt.
Wofür also soll das knappe Geld der Republik ausgegeben werden? Für Velayatmadar, für das Parlament, für die Revolutionsgarden – und wohl auch für den Obersten Führer – ist die Antwort auf diese Frage klar: Das Parlament arbeite an einem „umfassenden Plan zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit, insbesondere an den Grenzen, im Geheimdienst- und Sicherheitsbereich“. Ziel sei es, „die Abschreckung und Reaktionsfähigkeit der Streitkräfte auf ihr Maximum zu bringen“. Dazu liefen bereits „umfassende technische und operative Bedarfserhebungen“, um Lücken bei Ausrüstung, Ausbildung und Infrastruktur zu identifizieren – und sie mit passenden Haushaltsmitteln zu schließen.
Für Außenstehende mag noch unklar sein, wohin die kommenden Monate führen. Für die Machtelite in Iran jedoch steht fest: Das System wird durch den Donner seiner Raketen geschützt. Zwei Bilder einer Gesellschaft – sie könnten gegensätzlicher kaum sein. Zwei Welten, zwei Narrative, in einem Land.
Szene 2: Regierung, Wirtschaft und Ratlosigkeit
Nur wenige hundert Meter vom Parlament entfernt, im Sitzungssaal der Regierung, sprechen Minister und der Regierungschef von einer anderen Realität. Der Finanzminister beklagt Haushaltslöcher; der Landwirtschaftsminister berichtet, dass Importeure von Reis zwar Devisen zum staatlichen Kurs erhalten, aber entweder keine Ware geliefert oder sie zum Schwarzmarktpreis verkauft hätten. Der Energieminister bittet um Gebete für Regen. Der stellvertretende Regierungschef kündigt ein dreistufiges Benzinpreissystem an und bestätigt indirekt eine geplante Preiserhöhung.
Wie soll ein Land, das wirtschaftlich kaum auf den Beinen steht, einen möglichen Krieg überstehen? Diese Frage schiebt Khamenei an die Regierung weiter – denn alles, was ihn betrifft, sind derzeit die Streitkräfte.
Szene 3: Die Straße und das Überleben
Die Inszenierung der Stärke läuft auf Hochtouren. Auf dem Revolutionsplatz in Teheran wird eine Statue enthüllt, die zeigt, wie römische Kaiser vor dem iranischen König Schapur I. niederknien – begleitet von dem Versprechen: „Auch ihr werdet wieder vor Iran knien.“ Wer soll damit gemeint sein – Israel? Die USA? Europa? Und worin sollen sie unterliegen – im Krieg oder in der Wirtschaft? Nichts davon ist klar. Was bleibt, ist eine Mischung aus Tragödie und Farce, vielleicht eine schwarze Komödie.
Die Menschen, die täglich am Revolutionsplatz im Zentrum Teherans vorbeigehen, haben mit diesem Pathos nichts zu tun. „Das Volk der Islamischen Republik“ und „die Menschen, die in Iran leben“ sind längst zwei verschiedene Gruppen geworden. Die Sorge der Menschen ist das nackte Überleben – die Sorge des Systems das Überleben des Systems. Beide kämpfen um ihre Existenz, doch die großen Bühnen, Plakatwände, Lautsprecher und Fernsehkanäle erzählen nur von der zweiten Sorge.
Szene 4: Die Apokalypse der Islamischen Republik
In den Denkzirkeln der Revolutionsgarden kursiert eine Formel, die längst zum Dogma geworden ist: „Das Gleichgewicht mit Israel lässt sich nur durch Raketenmacht wiederherstellen.“ Die Präferenz des Systems ist eindeutig: Wenn eine Wahl getroffen werden muss, dann lautet sie: Raketen vor Brot. Diese Priorität lähmt die Regierungsführung – doch für das System selbst gilt sie als Heilmittel. Das Militär hat im Machtgefüge der Islamischen Republik eine dominierende Rolle, und Khamenei steht fest an seiner Seite. Wenn die Verteilung der Ressourcen nicht Ergebnis fachlicher Abwägung, sondern der internen Machtbalance ist, dann ist der Sieger längst klar: Es sind die Revolutionsgarden.
Stärkung der Streitkräfte und Aufschub der Brotfrage – das ist die gegenwärtige Strategie des Regimes. Es sei denn, die Wucht der Realität zwingt es zum Umdenken. Inzwischen aber verarmt die Gesellschaft Tag für Tag weiter, während die Raketenplakate immer größer werden. Und doch hallt im Inneren des Systems ein Satz nach: Weder reichen die Mittel, um die Wirtschaft zu retten, noch reicht die Kraft, um die Abschreckung wiederherzustellen und die Kriegsangst zu vertreiben.
Wenn ein Staat nicht mehr regieren kann, übernimmt die Realität das Kommando – und die Realität ist unerbittlich.
Quelle: Radio Zamaneh
