Sanktionen reloaded: Der Iran und das Gespenst des Krieges
Ende September wurde der Snapback-Mechanismus ausgelöst, mit dem eine lange Liste von UN-Resolutionen gegen die islamische Republik in Kraft tritt, die alle Mitglieder einhalten müssen. In Iran halten viele dies für den sicheren Vorboten eines neuen Krieges.
Ein Kommentar von Ali Sadrzadeh
Mit kraftvoller Stimme verliest ein Sprecher in den 7-Uhr-Nachrichten am Sonntag, den 28. September, eine Erklärung des iranischen Justizchefs Ayatollah Gholam-Hossein Mohseni-Eje’i. Wenige Stunden zuvor ist um 4 Uhr 30 der sogenannte Snapback-Mechanismus in Kraft getreten, initiiert Ende August von Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Mit ihm werden UN-Sanktionen gegen Iran reaktiviert, die Finanzaktionen sowie Waffen- und Ölhandel betreffen, zudem blockiert der Snapback den Einspruch der Vetomächte im UN-Sicherheitsrat. In seiner Erklärung erläutert Mohseni-Eje’i die Folgen des Snapbacks für die Iraner aus seiner Perspektive: Von nun an werde jeglicher Verstoß gegen „die Sicherheit der Volksseele“ – امنیت روانی مردم – hart bestraft.
In der islamischen Republik ist die „Volksseele“ etwas Reales, beinahe Messbares: ein schützenswertes Gut, das sich nach Meinung der Mächtigen in Dauergefahr befindet. Ihre Sicherheit ist ein juristischer Tatbestand, den etliche Paragraphen definieren und um den sich eine riesige Bürokratie mit Schwerpunkt-Staatsanwalt samt Geheimdienst kümmert, denn zahlreich sind diejenigen, die täglich gewollt oder ungewollt auf vielfältige Weise diese Seele in die Irre führen könnten: Journalisten, Influencer, Filmemacher, Lehrer, Politiker oder ganz einfach Menschen, die gegen irgendetwas protestieren. Die Verurteilung wegen „Beeinträchtigung der Volksseele“ ist in Iran alltägliche Normalität.
Was der Snapback wirklich bewirkt, konnte man wenige Stunden später auf dem Teheraner Bazar erleben, wo der US-Dollar auf den historisch höchsten Kurs von 107.000 Tuman anstieg. Und er steigt weiter. Anfang Oktober lag er bei 1 zu 117.000 Toman. Vor der Gründung der Islamischen Republik war das Verhältnis 1 zu 10. Doch der oberste Richter hat recht: Viel Psychologisches ist im Spiel, wenn jede Webseite, jeder Influencer von Inflation und bevorstehender Knappheit täglicher Güter nach dem Snapback redet. Da ist die „Volksseele“ tatsächlich irritiert.
Der machtlose Präsident
Am Tag des UNO-Beschlusses befand sich auch Irans Präsident in New York. Masoud Pezeshkian war für seine jährliche Rede vor der UN-Vollversammlung dort, doch sein eigentliches Ziel war, mit Geheimgesprächen am Rande des Treffens die Einführung des Snapback-Mechanismus zu verhindern oder zumindest zu verschieben. Er hätte wissen müssen, dass er nichts erreicht. Wenige Stunden, bevor seine Maschine in New York landete, erklärte in Teheran der Oberste Führer Ali Khamenei jegliche Verhandlung mit den USA für Frevel und stellte damit erneut klar: Pezeshkian mag sich Präsident nennen, aber für das Eigentliche ist der Oberste Führer zuständig.
Mit den neuen, alten Sanktionen, die auf sechs UN-Resolutionen von 2006 bis 2010 basieren und nun wieder in Kraft treten, tritt Iran nach Meinung vieler Beobachter in eine neue Phase ein. Obwohl Sanktionen zu den Geburtswehen der Islamischen Republik gehören und die Mächtigen in den 46 Jahren seither gelernt haben, mit ihnen zu leben beziehungsweise sie zu umgehen, kommt der Snapback in einer sehr gefährlichen Zeit. Das Land hat gerade einen Krieg hinter sich, der zwar kurz, aber desaströs, ja vernichtend war. Die „Republik“ verlor praktisch ihre gesamte Militärführung, ihre Atomanlagen samt ihren Atomwissenschaftlern sowie ihre Luftabwehr: „Der iranische Himmel gehört uns“, behauptet Benjamin Netanjahu seither öfter. Khamenei lebt seither versteckt und meldet sich sporadisch, wenn er es für notwendig hält, doch sein Reich befindet sich in der Übergangsphase zu einer Post-Khamenei-Ära. Vieles, was dieser Tage gesagt und geschrieben wird, bringt man mit einem verborgenen Diadochenkampf in Verbindung. Die Revitalisierung der Sanktionen kommt außerdem zu einer Zeit, in der Europa gegenüber Iran nicht mehr mäßigend und vermittelnd, sondern selbst als radikale Partei auftritt und zu harten Sanktionen greift.
Ein Kriegsgespenst geht um
Khameneis kurzer Auftritt machte klar, wohin die Reise dieser Republik geht. Und bevor der iranische Präsident wieder in Teheran gelandet war, verkündete die Europäische Union eine Liste beispielloser Sanktionen, die das Land praktisch abschnüren: Es gelten Reiseverbote und Verbote für Handels- und Finanztransaktionen, Bankwesen und Transport sind ebenso sanktioniert wie der Handel mit iranischem Rohöl, Erdgas oder petrochemischen Produkten. Die Vermögen der iranischen Zentralbank und anderer Geschäftsbanken werden eingefroren, Frachtflüge zu EU-Flughäfen verwehrt und jeglicher Service für iranische Flugzeuge oder Schiffe untersagt. Andere G7-Staaten melden ähnliche Sanktionen.
Was allein die Verkündung dieser Einschränkungen mit der „Volksseele“ anstellt, kann man nur erahnen, doch für echte Besorgnis sorgt etwas Unangekündigtes.
„Egal, wohin ich dieser Tage gehe, mit wem ich auch rede, jeder fragt, ob es wieder einen Krieg geben wird. Viele halten ihn bereits für unausweichlich und fragen nur noch nach dem Wann“, schrieb dazu einen Tag später Emadeddin Baghi in der Teheraner Zeitung Shargh. Baghi ist nach Meinung vieler Beobachter ein glaubwürdiger Journalist. Der 63-Jährige ist gläubiger Moslem und gut vernetzter Menschenrechtsaktivist mit vielen Veröffentlichungen und Gefängniserfahrung. Er setzt sich für die Rechte aller Gefangenen ein, unabhängig davon, was sie getan haben oder nicht. Warum mit einem neuen Angriff zu rechnen sei, liege auf der Hand, schreibt Baghi, denn „weder Israel noch die USA trauen unseren Mächtigen, auch Europa tut es inzwischen nicht mehr“. Der herrschende Eindruck sei, dass es für die gesamte Region einen großen Plan, eine umfassende Strategie gebe hin zu einem neuen Nahen Osten, so Baghi. Das ist auch die überwiegende Meinung in der iranischen Diaspora.
Wie eine Bestätigung dieses Eindrucks liest und hört man täglich, ja fast stündlich entsprechende Meldungen aus den USA oder aus Israel. Vieles ist Stimmungsmache, wird aber als Kriegssignal wahrgenommen. So meldete Israel Hayom am 30. September, die israelische Armee befinde sich aus Sorge, dass Teheran aus Rache einen überraschenden Angriff starten könnte, in höchster Alarmbereitschaft. Kein Militär oder Politiker glaubt ernsthaft, dass die Islamische Republik momentan militärisch oder politisch in der Lage wäre, Israel anzugreifen. Doch solche Meldungen werden in vielen iranischen Kreisen als Vorboten eines neuen Krieges betrachtet – zumal die Zeitung schrieb, Israels Armee bereite sich auf eine zweimonatige Phase hoher Spannungen vor. Warum gerade zwei Monate, könnte man fragen. Ist dann die Gefahr beseitigt?
Kriegssignale aus allen Richtungen
Alan Eyre, der persischsprachige ehemalige Sprecher des US-Außenministeriums, sagte am 29. September laut Bloomberg, die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Eskalation zwischen Iran und Israel sei sehr hoch. „Auch wenn die USA den Angriff auf Iran als erledigt ansehen, betrachtet Israel nicht nur Teherans Atomprogramm, sondern Iran insgesamt weiterhin als existenzielle Bedrohung“, so Eyre. Und Netanjahu sprach in seiner UNO-Rede indirekt von einem möglichen Regimewechsel in Iran und fügte hinzu, Iran könne eines Tages Frieden mit Israel schließen. Donald Trump wurde noch deutlicher. Bei der Verkündung seines Gaza-Friedensplans am 27. September sagte er, sogar Iran könne seine Beziehungen zu Israel normalisieren, ein Beitritt zum Abraham-Abkommen sei möglich. Tags darauf fragte die iranische Zeitung Etemad, wie sich der US-Präsident diesen Beitritt genau vorstelle: durch die Islamische Republik mit ihrer jetzigen Führung – oder nach einem Regimewechsel?
Am 1. Oktober meldete das Weiße Haus, die USA garantierten „die Sicherheit und territoriale Unversehrtheit des Staates Katar gegen externe Angriffe“ und betrachteten „jeden bewaffneten Angriff auf das Territorium, die Souveränität oder die kritische Infrastruktur des Staates Katar als Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit der Vereinigten Staaten selbst“. Diese Sicherheitsgarantie ist ein Signal mit vielen Adressaten. Einer davon – viele meinen: der eigentliche – ist Iran. Katar ist der Standort der größten US-Militärbasis in der Region, die die iranischen Revolutionsgarden zwei Tage nach dem Angriff auf die iranische Atomanlage Fordo mit Raketen beschossen. Es war zwar ein angekündigter, symbolischer Angriff ohne Schaden, doch selbst das darf in Zukunft nicht mehr geschehen.
Wie koordiniert meldete sich wenige Stunden nach der EU-Erklärung über neue Sanktionen auch US-Außenminister Marco Rubio: „Die Welt wird Drohungen und halbherzigen Maßnahmen nicht nachgeben, Teheran wird zur Rechenschaft gezogen werden.“ Präsident Trump habe deutlich gemacht, dass Diplomatie zwar weiterhin eine Option und ein Abkommen nach wie vor das beste Ergebnis für das iranische Volk und die Welt sei. Doch dafür müsse Iran direkte Gespräche akzeptieren. Komme es nicht zu einem solchen Abkommen, obliege es den Partnern, notwendige Schritte zu unternehmen. Kurz darauf forderten auch die G7-Außenminister, Iran müsse mit den USA direkte Verhandlungen aufnehmen.
Hört Khamenei alles?
Ob der 86-jährige Khamenei all das wahrnimmt, ob er begreift, wie sich der Himmel über Iran verdüstert, darüber wird gestritten. Viele meinen, er kenne die Dimension der kommenden Gefahren, wolle aber in seinen letzten Jahren hart bleiben, es gehe schließlich um sein Lebenswerk.
Mostafa Tajzadeh ist einer der bekanntesten politischen Gefangenen Irans. Unter dem Reformpräsidenten Mohammad Khatami war er ein Stratege der Regierung. Als Vize-Innenminister organisierte er vieles, was mit innerer Sicherheit zu tun hat. Er hat sich inzwischen zu einem – wie er selbst sagt – radikalen Reformer gewandelt, sitzt derzeit eine 17-jährige Haftstrafe ab und meldet sich regelmäßig mit aufsehenerregenden Analysen aus dem Gefängnis. Zuletzt Anfang Oktober: Weil die Staatsführung nicht in der Lage sei, eine klare Perspektive aufzuzeigen, griffen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit um sich, heißt es darin: „Herr Khamenei, dessen Strategien alle falsch waren, hat nun zwei Wege: Entweder die Fortsetzung falscher Politik, die Armut, Krieg und Sanktionen über das Volk gebracht hat – mit noch mehr Despotismus, Militarisierung und Rechthaberei.“ Das Ende dieses Weges, so Tajzadeh, sei Chaos und Staatszerfall. Der zweite Weg sei „die Anerkennung von Fehlern, Misserfolgen und Unzulänglichkeiten und das Ausstrecken der Hand nach Unterstützung durch das Volk“. Doch die Zunahme von Hinrichtungen, der Druck auf gewaltfreie Aktivisten, das Ende der Diplomatie und der Drang zur Herstellung einer Atombombe zeigten: „Der Führer und seine Umgebung haben sich für die erste Option entschieden.“ Damit, so Tajzadeh, begehe Khamenei „seinen letzten Fehler“ und setze „die Existenz Irans als Ganzes aufs Spiel.“
Das ist das Härteste und Schärfste, was der allseits geachtete Autor je gesagt oder geschrieben hat. Da er weiß, dass das Aufzählen von Missständen allein nicht ausreicht, schreibt Tajzadeh am Ende, bald werde er „eine eigenständige Analyse der Lage mit Lösungsvorschlägen vorlegen, damit durch Diskussion und Kritik ein Konsens gefunden und die Krisen sicher überwunden werden können.“
So fundiert, faktenbasiert und eigenständig die nächste Analyse von Tajzadeh – einem Symbol der iranischen Reformbewegung – auch ausfallen mag, gilt es als höchst unwahrscheinlich, dass Khamenei darauf eingehen würde.
