Wer entscheidet, wohin die Reise geht?
Zwölf Tage Krieg haben den Iran erschüttert, doch der eigentliche Konflikt beginnt erst jetzt. Die Islamische Republik taumelt zwischen Nationalismus, Repression und der Angst vor dem Zerfall. Khameneis Macht schwindet – und mit ihr jede Gewissheit über die Zukunft des Landes.
Ein Kommentar von Ali Sadrzadeh
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Die ungeschriebene Feuerpause ist brüchig, sie lässt alles offen. Sie ist nicht mehr als eine Atempause, in der nichts sicher ist. Khameneis „Republik“ befindet sich in einem Schwebezustand. Diese Tage sind keine Nach-, sondern höchstens eine Vorkriegszeit. Die Dimensionen dessen, was geschehen ist, bleiben im Dunkeln. Der gesamte iranische Militärapparat ist zwar praktisch enthauptet. Ob aber auch das iranische Atomprogramm bereits der Geschichte angehört oder ob es nur für einige Jahre lahmgelegt oder im Gegenteil fast vollständig intakt ist, bleibt nach dem zwölftägigen Bombardement im Juni ungewiss. Die Bandbreite für Propaganda ist immer noch sehr groß und für alle Seiten offen; Gründe, Vorwände und Anlässe für einen künftigen Krieg sind ausreichend vorhanden.
Die Islamische Republik liefert wie immer keine glaubwürdigen Informationen, und das, was Israel bzw. die USA der Öffentlichkeit über ihren Krieg preisgeben, sind Angaben ihrer Geheimdienste.
Was wird aus der islamischen Republik, was aus Khameneis Lebensmission, und noch wichtiger, was aus der territorialen Integrität Irans? Es kann, es wird nicht so bleiben, wie es ist. Die Post-Khamenei-Ära beginnt in einer sehr gefährlichen Atmosphäre. Die Suche nach Mossad-Spionen ist, offen und versteckt, in vollem Gange.
Propagandisten haben umgeschaltet, von Islamismus auf Nationalismus und Patriotismus. Neben schiitischen Märtyrern tauchen auf den Plakaten und in offiziellen Medien nun auch Figuren aus der vorislamischen Mythologie auf. Alte Nationalhymnen werden aus verstaubten Archiven herausgeholt und oft mit schiitischer Konnotation vermengt.
Unmittelbar nach dem Zwölftagekrieg begann im Iran die Jagd auf afghanische Flüchtlinge. Bis zum Niederschreiben dieser Zeilen wurden laut dem iranischen Innenministerium 717.685 afghanische Flüchtlinge deportiert. Warum diese Menschen plötzlich aus dem Land vertrieben werden mussten, dafür liefert die Propagandamaschine eine unendliche Liste der Rechtfertigungen. Sogar von Mossad und Spionage ist die Rede. Über die Einzelschicksale und die Umstände dieser gewaltsamen Massenrückführung ließen sich Bände füllen. Gegen diese Remigration à la Islamische Republik regt sich kein Widerstand, kein Protest. Die Menschen haben andere Sorgen, sie sind sich nicht mal ihrer eigenen Zukunft sicher. Auf der Suche nach Spionen und Kollaboratoren der „Zionisten“ ist dieser Tage alles gerechtfertigt.
Ist ein friedlicher Übergang zu einer Post-Khamenei-Ära möglich? Kann die zersplitterte Opposition sich einigen? Und wer wird ein Wiederaufflammen eines erneuten Feuers verhindern können, das sich diesmal zu einem sehr großen Flächenbrand entwickeln könnte?
Fragen, auf die niemand eine Antwort hat.
Ein beseitigter Tumor könne immer wieder Metastasen bilden, das gelte es zu verhindern, sagte Benjamin Netanjahu am 5. Juli 2025 bei einem Dinner im Weißen Haus. Tag zuvor hatte sein Verteidigungsminister Israel Katz verkündet, seine Armee habe die totale Luftfreiheit über den Iran, auch das gelte zu bewahren. Netanjahus Gastgeber nickte an diesem Abend zu alldem zustimmend und fügte hinzu, sie sollten aufhören, „Tod Amerika“, „Tod Israel“ zu rufen.
Dieses „sie“ ist nicht plural gemeint, es ist in Wahrheit ein „ER“.
Wie der Zufall es will, haben kurz nach dem Washingtoner Dinner 180 iranische Universitätsprofessoren in einem offenen Brief an den iranischen Präsidenten Pezeshkian genau aufgelistet, was diese/r „sie/er“ tun müsse, um eine fast sichere Katastrophe zu verhindern. Der Titel ihres Briefes lautet „Totaler Paradigmenwechsel“.
Der eigentliche Adressat des Briefes ist nicht Pezeshkian, das wissen die Briefeschreiber selbst. Doch sie wissen auch, „ihn“, den Gottesvertreter, kann man, ja darf man nicht belehren. Um den totalen Niedergang des Landes zu verhindern, zählen die Wissenschaftler unmissverständlich auf, was in diesen historischen Tagen getan werden muss – wer will, kann es hören.
Zu allererst schreiben beziehungsweise warnen sie: „Die territoriale Integrität des Landes gilt zu bewahren“. Dafür fordern sie eine Garantie der Meinungs- und Redefreiheit, die Freilassung politischer Gefangener, ein Ende der Hausarreste und ein Ende des Monopols einer kleinen Gruppe über Funk und Fernsehen, dazu die Neumodellierung des gesamten Sicherheitsapparats sowie ein gründliches Umkrempeln der Wirtschafts-, Handels- und Währungspolitik, damit die systematische Korruption ein Ende finde.
Am Ende des Briefes werden die Wissenschaftler sehr deutlich: Ohne echte Beteiligung der Bevölkerung und eine völlige Änderung der Außenpolitik lasse sich keine dieser Forderungen realisieren.
Ob der wahre Briefadressat diese Forderungen erfüllen will beziehungsweise kann, ist mehr als fraglich. Dann bliebe von seiner „Republik“ nur eine Hülle. Außerdem lassen sich die Geister, die er in den 36 Jahren seiner Herrschaft um sich scharte, nicht so leicht in die Flasche zurückpressen. Zumal er selbst die Inkarnation dieses Geistes ist.
Donald Trump sagt, Iran wolle und werde mit ihm verhandeln. In Anwesenheit Netanjahus verkündete er sogar, bald werde sein Sondergesandter Steve Witkoff sich auf den Weg machen. Erst müssten die USA und Israel garantieren, dass sie den Iran nie mehr angreifen würden, dann sei man zu Verhandlungen bereit, sagt der iranische Außenminister Abbas Araghchi.
Nicht nur das Datum erneuter Gespräche ist offen, auch das Ziel ist ungewiss. Wenn das Atomprogramm nicht mehr existiert, wenn Israel alle zwölf Wissenschaftler, die mit dem Bau der Sprengköpfe beschäftigt waren, in diesen zwölf Tagen ausfindig gemacht und umgebracht hat – worüber sollte dann verhandelt werden.
„Nie mehr ‚Tod Amerika‘, ‚Tod Israel‘ rufen“, das ist ein sehr weites Ziel. Ali Khamenei lebt in Verborgenheit. Zwei Mal hat er sich seit dem Kriegsende kurz in der Öffentlichkeit gezeigt. Er wirkte gebrochen, gealtert und verloren. Der einstige Großrhetoriker schien abwesend.
Trump sagt, er wolle keinen Krieg mehr, und israelische Zeitungen schreiben, Netanjahu gebe sich nicht mit weniger zufrieden als mit einem „Libyen-Modell“. Will heißen: Genau so, wie Ghaddafi 2003 unter strenger Aufsicht der Welt sein gesamtes Atomprogramm aufgeben musste, so müsse es auch Khamenei heute tun.
Das Wort Libyen assoziiert viel: das völlige Verschwinden jeglicher Staatlichkeit, ein unendlicher Bürgerkrieg mit mehreren Machtzentren, kurzum, eine Hölle auf Erden. Steht Iran nach Khameneis langer Herrschaft etwas Ähnliches bevor? Für- und Widerargumente füllen dieser Tage die sozialen Netzwerke.
Die Verborgenheit ist eine schiitische Konstante. Der zwölfte Imam, in dessen Namen Khamenei regiert, lebt seit 1250 Jahren verborgen, regiert aber weiterhin die Welt. Aus seinem Versteck heraus erfülle der geehrte Führer die Rolle des Oberbefehlshabers mustergültig, schreiben ihm nahestehende Webseiten. Ob und wie der 86-Jährige sich für die totale Verborgenheit vorbereitet, wissen wir nicht, aber lange wird es nicht mehr dauern, bis wir erfahren, wer die Diadochenkämpfe gewonnen hat. Die Revolutionsgarden verloren zwar durch den Krieg ihre Köpfe und sind für einen Krieg mit dem Ausland kaum noch brauchbar, dafür sind sie im Inneren präsenter denn je. Sie bestimmen, wohin die Reise geht.
Foto: Tasnim News
Von Ali Sadrzadeh erscheint in Kürze das Buch „Ali Khamenei: Aufstieg und Herrschaft“, Kohlhammer Verlag.