„Wir dachten nicht, dass es wirklich passiert“ – Iran nach dem Krieg
Seit dem Waffenstillstand mit Israel herrscht kein Frieden, sondern eine neue, tiefere Angst. Menschen in Iran berichten von psychischen Zusammenbrüchen, nächtlichen Explosionen, Repression und wachsender Verzweiflung. Die Islamische Republik versucht, Stärke zu inszenieren – doch in den Straßen, Wohnungen und Köpfen der Menschen sitzt der Schrecken fest. Ein Bericht über ein Land im Ausnahmezustand, lange nach dem letzten Einschlag.
Von Afra, Teheran
Mit dem israelischen Angriff auf iranisches Territorium in den frühen Morgenstunden des 13. Juni begann ein Krieg, der das Land für zwölf Tage in seinen Grundfesten erschütterte. Dutzende präzise koordinierte Luftschläge töteten ranghohe Kommandeure der Revolutionsgarde. Doch der militärische Schlagabtausch zwischen der Islamischen Republik und Israel war nur der sichtbare Teil einer viel tiefergehenden Erschütterung: Gesellschaftlich, psychisch und politisch wirkt der Krieg noch lange nach – und viele Iraner*innen glauben nicht an ein Ende der Gewalt.
Verdrängte Realität
Jahrzehntelang hatte das iranische Regime Israel als Hauptfeind stilisiert, doch der Krieg fand stets außerhalb der eigenen Grenzen statt, durch Stellvertretergruppen in Nachbarländern. Dass sich ein direkter Krieg auf iranischem Boden abspielen könnte, war für viele Menschen unvorstellbar. Jetzt sitzt der Schock tief. Bei Interviews auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken ist immer wieder derselbe Satz zu hören: „Wir hätten nie gedacht, dass diese Drohungen einmal Wirklichkeit werden.“
Ein Waffenstillstand, der keiner ist
Die offizielle Verkündung des Waffenstillstands hat die Lage kaum beruhigt. Die Menschen bleiben in Alarmbereitschaft. Ein Professor der Universität Teheran formuliert es so: „Das ist kein Frieden, sondern die Stille vor einem größeren Sturm. Dieser Krieg war nicht begrenzt – er war der Auftakt zu einer Entscheidungsschlacht. Entweder fällt Netanyahu, oder das iranische Regime zerbricht.“
Er berichtet von ununterbrochenen Drohnen- und Jetflügen über Teheran, von gezielten Treffern auf militärische Anlagen – und von einem grundlegenden Vertrauensbruch: „Wir glaubten, die Milliarden, die ins Militär flossen, dienten unserer Sicherheit. Jetzt wissen wir: Wir sind schutzlos.“ Auch nach der Waffenruhe traut er sich kaum auf die Straße: „Wir schlafen mit Angst. Denn wir wissen: Wenn Israel wieder zuschlägt, kann uns niemand verteidigen.“
Die unsichtbare Wunde: die Psyche
Der Krieg hat sich tief ins kollektive Bewusstsein eingebrannt. Psycholog*innen berichten von einem massiven Anstieg von Patient*innen mit Panikattacken, Schlaflosigkeit und Angststörungen. Eine erfahrene Therapeutin sagt: „Wir haben die Kosten drastisch gesenkt, manche Behandlungen bieten wir kostenlos an. Aber selbst das reicht kaum. Die Angst sitzt zu tief.“
Rund 80 Prozent ihrer Patient*innen, schätzt sie, griffen inzwischen auf Medikamente zurück, um überhaupt den Alltag bewältigen zu können. Und selbst das wird erschwert: Der Internetzugang in Iran – notwendig für Online-Therapien – ist seit Beginn des Kriegs massiv gestört. Viele suchen Hilfe, doch kaum jemanden erreicht sie.
Repression statt Sicherheit
Der Waffenstillstand brachte keine Entspannung, sondern eine neue Form der Angst. Die Sicherheitsbehörden agieren mit brutaler Härte: Überall im Land wurden Kontrollpunkte eingerichtet, schwer bewaffnete Sicherheitskräfte gehören zum Stadtbild. Die Sicherheitsbeamten eröffneten das Feuer auf einige Menschen, die einen Kontrollpunkt übersehen hatten. In der zentraliranischen Stadt Hamedan wurden zwei Wanderer, die einen mobilen Kontrollpunkt übersahen, erschossen. Die Angst vor dem eigenen Staat wächst.
Ein Theaterregisseur in Teheran erzählt von einem Übergriff: Eine Woche nach der Waffenruhe drangen zivile Sicherheitsbeamte in seine Wohnung ein, durchsuchten sein Handy, schlugen ihn und verlangten Auskunft über Kontakte und Aufenthaltsorte. Am Ende musste er ein Papier unterschreiben, in dem er versprach, keine Anzeige zu erstatten. „Wir haben zwölf Tage Raketen überlebt – jetzt müssen wir vor unserem eigenen Staat zittern.“
Die Angst bleibt – auch nach dem letzten Knall
In jeder Straße, in jedem Gespräch ist der Krieg präsent. Menschen sprechen von Luftalarmen, Kellerfluchten, Todesnachrichten.Und stellen stets die gleiche Frage: „Kommt der nächste?“
Ein Aktivist, der an den „Frau, Leben, Freiheit“-Protesten von 2022 beteiligt war, sagt: „Dieser Krieg ist nicht vorbei. Er ist nur unterbrochen. Wenn er zum Fall des Regimes führt, werden viele von uns erleichtert sein. Vor dem Krieg sprach das Regime nie von ‚Iran‘, sondern nur von der ‚Islamischen Republik‘ – als gäbe es das Volk gar nicht.“
Er beobachtet einen Wandel: Auf Plakatwänden erscheinen plötzlich Figuren aus der Nationalmythologie, in religiösen Ritualen tauchen Wörter wie „Iran“ und „Volk“ auf – einst Tabus in der offiziellen Rhetorik. Selbst Ali Khamenei spricht nun von „Nation“ und „iranischer Zivilisation“: ein Eingeständnis, dass in der Krise nur das Volk den Staat retten kann – jenes Volk, das stets inhaftiert und unterdrückt wurde.
Schutzräume nur für die Elite
Besonders empörend für viele ist die Tatsache, dass es für die Bevölkerung keinerlei Schutzvorkehrungen gab und gibt. Während Millionen unter dem Bombenhagel lebten, war der Oberste Führer verschwunden – vermutlich in einem Bunker. Erst 22 Tage nach Kriegsbeginn tauchte er bei einer religiösen Zeremonie wieder auf.
Eine 60-jährige Hausfrau aus Teheran berichtet: „Wir sind nicht geflohen. Wir haben die Explosionen gehört, das Feuer gesehen – aber wir blieben. Khamenei schickte Botschaften aus dem Bunker und sagte, wir sollten keine Angst haben. Er war in Sicherheit – wir nicht.“
Ein 24-jähriger Student sagt: „Mein Rucksack steht gepackt in der Ecke. Falls wieder eine Evakuierung befohlen wird, bin ich bereit. Das ist kein Leben.“ Seine größte Angst? Nicht der Krieg selbst – sondern die Reaktion des Regimes darauf. „Immer, wenn sie von außen geschlagen wurden, haben sie sich an uns gerächt.“
Keine Rückkehr zur Normalität
Trotz offizieller Waffenruhe berichten viele Iraner*innen weiterhin von nächtlichen Explosionen, aktivem Flugabwehrfeuer und seltsamen Erschütterungen. Die Regierung schweigt. Das ohnehin erschütterte Vertrauen der Bevölkerung ist nun komplett zerstört.
Die Städte sind wieder voller Menschen – aber nicht, weil das Leben weitergeht, sondern weil es weitergehen muss. Viele haben ihr Zuhause verloren. Die Mittel zum Wiederaufbau sind knapp – viel knapper als jene, die für pro-iranische Milizen im Ausland zur Verfügung stehen, glauben viele Menschen. Der Frust wächst.
Iran hat sich verändert. Die Zerstörung, das Schweigen der Machthaber, die permanente Unsicherheit – all das hat das Land in einen Zustand versetzt, den niemand vor dem Krieg für möglich hielt – ein Land unter Waffenruhe, aber ohne Frieden.
Foto: Javanonline
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