Reproduktion der Vergangenheit
Die Massenhinrichtungen politischer Gefangenen im Iran vor 30 Jahren sind längst noch nicht Geschichte, sondern aktueller denn je – und sie könnten sich wiederholen. Den Grund erklärt Jamshid Barzegar in seinem Kommentar.
Dreißig Jahre sind vergangen seit jener schrecklichen Entscheidung, die für mehrere Tausend politische Gefangene im Iran den Tod bedeutete und das Leben vieler iranischer Familien für immer veränderte. Dennoch wissen wir heute weder über die Gründe für diese Geschehnisse mehr als damals, noch über die Zahl der Opfer und die Art und Orte ihrer Beerdigung.
Das Schweigen der Verantwortlichen und das Beharren der Machthaber darauf, die Dokumente von damals zurückzuhalten, setzen den Ausschluss all jener fort, die nicht den Machtzirkeln angehören.
Zweifelsohne ist die iranische Bevölkerung heute mehr mit Problemen befasst, die ihr tägliches Leben unmittelbar betreffen. Daher sehen vielleicht manche die Massenhinrichtungen im Sommer 1988 als historisches Ereignis an, das heute keine Relevanz mehr hat. Doch die Ursache dieser Haltung liegt nicht allein in den aktuellen Problemen der Menschen, sondern vielmehr in der Unwissenheit der jungen Generation, die wegen der staatlichen Zensur über bestimmte Ereignisse der Vergangenheit nicht informiert ist.
Die Massenhinrichtungen insbesondere des Sommers 1988 sind offenbar von solcher Bedeutung, dass die Veröffentlichung von Dokumenten darüber ungeahnte Folgen haben und sogar für den Fortbestand oder den Sturz des derzeitigen politischen Systems entscheidend sein kann.
Das Schweigen der Hintermänner und ihrer Handlanger, das vorsätzliche Vernichten von Dokumenten und Indizien oder die Bemühungen der Verantwortlichen, aus diesem Ereignis etwas zu machen, das der Vergangenheit angehört, wird dessen Aufklärung nur verschieben, nicht verhindern.
Hätten die Angehörigen der Hingerichteten, politische Parteien und Organisationen, gesellschaftliche Institutionen und – noch wichtiger – die Medien und die Öffentlichkeit in den vergangenen 30 Jahren Informationen über die Hintergründe der Hinrichtungen bekommen und sich eine Meinung über die Geschehnisse bilden können, hätten wahrscheinlich viele Ereignisse der letzten zwei, drei Jahrzehnte, insbesondere in iranischen Gefängnissen, vermieden werden können.
Laut Ayatollah Montazeri* sind bei den Massenexekutionen 1988 mindestens 3.800 politische Gefangene hingerichtet worden. Manche Forscher gehen von 5.000 Hingerichteten aus. Wenn sich in den vergangenen drei Jahrzehnten entpuppt hätte, warum und wie in weniger als zwei Monaten so viele Menschen hingerichtet und in Massengräbern beerdigt wurden, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass auch in den folgenden Jahrzehnten politische Gefangene ohne ein faires juristisches Verfahren zum Tode verurteilt werden, viel kleiner gewesen. Wenn die wahre Geschichte des Iran in den 1980ern geschrieben worden wäre, wären nicht Unzählige ohne Todesurteil in iranischen Gefängnissen zu Tode gekommen.
Wenn in jener Zeit das Verhalten der Staatsmacht gegenüber kritischen BürgerInnen und RegimegegnerInnen aufgeklärt worden wäre, hätten wahrscheinlich die Kettenmorde oder das Töten von Protestierenden auf den Straßen in den letzten Jahren verhindert werden können. Denn die Machthaber hätten sich dazu verpflichtet gefühlt, ihre Taten zu verantworten.
Doch bisher sind nicht nur alle Fragen zu den Geschehnissen im Sommer 1988 offen geblieben, sondern auch jene zu den politischen Kettenmorden, zu den Todesfällen in den Gefängnissen und der Tötung von Demonstranten auf den Straßen. Der Sommer 1988 wurde ununterbrochen reproduziert.
JAMSHID BARZEGAR**
Aus dem Persischen übertragen und überarbeitet von Farhad Payar.
Quelle: DW
* In einer 2016 von Ayatollah Montazeris Sohn veröffentlichten Tonbandaufnahme rügt Montazeri die Verantwortlichen der Massenhinrichtungen bereits 1988 für ihre Taten.
** Der Autor ist Leiter der persischen Redaktion der Deutschen Welle (DW).
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