„Das abendländische Morgenland“

Bereits 2003 hat Navid Kermani in seinem Reportageband „Schöner neuer Orient“ aus dem Iran den hier berührten Themenkreis der Jugendkultur abgeschritten. In dem Kapitel „Sex and Drugs in der Islamischen Republik“ demontiert er das „puritanische Bild“, das man sich im Westen vom „iranischen Gottesstaat“ machte. „Teheran birgt eine ausgedehnte Subkultur aus Dancefloor und Ecstasy, aus Alternativrock, Rap und Techno“, schreibt er. Die Gesellschaft habe sich „säkularisiert und modernisiert“.
Aber: dieser Befund sei eben „so ambivalent wie die Moderne selbst“. Kermani berichtet von einem Verfall der sozialen Sitten, von Prostitution und verbreitetem Drogenkonsum. „Es dürfte kein Land auf der Welt geben, in dem sich das politische System so weit von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt hat“, lautet seine Diagnose – vor 13 Jahren. Er hütete sich allerdings davor, dass nonkonforme Verhalten von Jugendlichen und Erwachsenen als Form des politischen Protests zu deuten.
Gemessen an Kermani kam der Autor dieser Zeilen schon recht spät, als er sich Anfang 2006 in mehreren Fernsehreportagen der Jugendkultur im Iran widmete. Da konnte man sehen, wie die jungen Leute das Ashura-Fest zum Gedenken an den schiitischen Imam Husein auf den nächtlichen Straßen Teherans zur „Husein-Party“ umfunktionierten, wie langhaarige Heavy-Metal-Rocker in einer Aula der Teheraner Universität unter den Bildnissen von Khomeini und Khamenei auf die Saiten ihrer E-Gitarren droschen (und das Publikum sich dabei mit Ecstasy-Pillen aufputschte) und wie man beim Skifahren im Elborz-Gebirge allem entkam.
„Die milderen Despotien sind die dauerhafteren“

Revolutionsgarde
Die Revolutionswächter können den Iran in eine Militärdiktatur verwandeln

Richtig, seitdem ist wieder eine Generation iranischer Kinder zu jungen Erwachsenen geworden, die ähnliche Erfahrungen machen. Aber warum soll man wieder dieselben Geschichten erzählen? Wo ist der Erkenntnisgewinn? Leidet unsere Medienkultur an einem neurotischen Tick? Die Wiederholung des immer gleichen Erzählmusters wirkt schon deshalb peinlich, weil die politische und soziale Kultur des Westens selbst in einer tiefen Krise steckt und sich derzeit kaum als Sehnsuchtsort eignet. Zudem haben wir die Grenzen der Subversionskraft der jungen Generation im Iran 2009 kennen gelernt. Damals scheiterte die „Grüne Welle“.
Spätestens seitdem ist klar: Die „Islamische Republik“ muss keineswegs zwangsläufig durch eine liberale Demokratie ersetzt werden (deren Wegbereiter die freiheitsliebende Jugend gewesen wäre). Die Revolutionswächter können das Land auch in eine Militärdiktatur verwandeln. Iran kann auch in Chaos und Bürgerkrieg versinken, vor allem, wenn die wachsenden Umwelt- und Demographieprobleme sich nicht mehr beherrschen lassen. Es kann auch sein, dass die Herrschaft der Kleriker noch lange weitergeht. Jedenfalls scheinen die Machthaber lernfähiger und flexibler zu sein als wir glauben.
Vielleicht haben sie Raves und Rockkonzerte längst als Teil der Wirklichkeit akzeptiert und sehen sogar die Vorteile. “Die milderen Despotien sind die dauerhafteren“, schrieb Peter Sloterdijk in einer theoretischen Überlegung über „Streß und Freiheit“. Die milden Despotien böten „den Untertanen hinreichend angenehme Kompensationen für das Dasein im Joch der Unterordnung an.“
Das wäre mal ein Aspekt, unter dem rasende Reporter aus Deutschland die sympathisch individualistische Jugendkultur im Iran ganz neu entdecken könnten.
  STEFAN BUCHEN
Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin “Panorama”.
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