Politische Ökonomie eines Heiligen

In den Schrein von Imam Reza in Maschhad kommen jährlich Millionen schiitische Pilger. Nicht nur für die Stadt ist das Grabmal des Heiligen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, sondern es ist das Zentrum eines weitverzweigten Wirtschaftsimperiums mit enormem Einfluss in der iranischen Politik. Ulrich von Schwerin hat den Schrein besucht.
Noch ist in den Höfen die Luft kühl vor der Hitze des Tages, und unter der goldenen Kuppel ist die Zahl der Pilger noch überschaubar, die ans Grab von Imam Reza treten. Gegen Mittag wird hier kein Durchkommen mehr sein, dann drängen sie sich dicht an dicht, dann reißt der Strom der Pilger nicht ab, von den schwarzuniformierten Wächtern mit bestimmten Gesten um das Grab des Imams gelenkt. Doch so kurz nach Sonnenaufgang ist es noch ruhig in den inneren Hallen des Mausoleums von Maschhad, der wichtigsten islamischen Pilgerstätte im Iran.
Das Grab ist wie ein pulsierendes Herz, das Pilger aus der ganzen schiitischen Welt anzieht, einen ewigen Strom von Menschen in Bewegung hält. Am Morgen schlägt es langsamer, gegen Mittag schneller, ganz still steht es nie. Selbst in der Nacht zieht es noch Pilger zum Grab des achten Imam der Schiiten. 20 Millionen Pilger kommen jedes Jahr – aus dem Iran, dem Irak, dem Libanon, den Golfstaaten und Afghanistan, das nur 200 Kilometer entfernt liegt. Im Schnitt 56.000 Gläubige am Tag, an Feiertagen weitaus mehr.
Dem „Licht“ Gottes zugewandt
In den Sälen um die zentrale Grabkammer, die funkelnde Decke von einem Mosaik aus tausenden kleinen Spiegeln bedeckt, sitzen die Männer an die marmorverkleidete Wand gelehnt, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Boden, die Gebetskette zwischen den Fingern. Nach Geschlechtern getrennt betreten die Männer die Grabkammer von der einen Seite, die Frauen von der anderen, küssen den Türrahmen, um sodann Stirn und Lippen gegen das blanke Metall des Gitters zu drücken, das das Grab umgibt – nicht wenige mit Tränen in den Augen.
Die Trauer um die Märtyrer spielt im schiitischen Islam eine wichtige Rolle und wenn ein Prediger vom Tod des Imam Reza im Jahr 818 durch den Kalifen Al-Ma’mum erzählt, brechen ganze Hallen demonstrativ in Schluchzen aus, als wäre es erst gestern geschehen. Doch für viele Pilger ist die Emotion echt, die Pilgerfahrt nach Maschhad die Erfüllung eines langen Traums. Durch den Besuch am Grab des Imams können sie teilhaben am Heiligen – oder wie Mohsen es sagt, er bringt die Gläubigen dem „Licht“, der Wahrheit Gottes näher.
Der junge Mann Mitte 20, der mit seiner blauen Windjacke, seinem schwarzen kragenlosen Hemd und seinem Sieben-Tage-Bart dem früheren Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad ähnelt, studiert Theologie in Isfahan, um einmal Geistlicher zu werden. „Die einfachen Menschen können das Licht Gottes nicht direkt sehen, deshalb hat Gott die zwölf Imame gesandt, um das Licht zu den Menschen zu bringen“, sagt Mohsen und macht eine Geste, als wolle er das Licht in den Händen einfangen und seinem Gegenüber darbieten.
Mohsen ist ein Suchender – auf der Suche nach der Wahrheit. „Jeden Tag lerne ich hier etwas Neues über Gott“, sagt er. Fünf oder sechs Mal im Jahr kommt er nach Maschhad, um einige Tage am Grab des Imams zu verbringen, zu studieren, zu meditieren und dem „Licht“ Gottes nahe zu sein. Noch sei er ganz am Anfang des Weges, ganz zu Ende sei er nie, sagt der Theologiestudent. Doch das Leuchten in seinen Augen lässt vermuten, dass er zumindest einen Teil des göttlichen Lichts bereits gefunden hat.
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Glauben, das wichtigste Kapital der Stiftung
Während die inneren Hallen sich mit Pilgern füllen, rollen Mitarbeiter des Schreins draußen auf dem „Hof der Islamischen Revolution“ Teppiche für das Mittagsgebet aus. An den vier Seiten des Hofs, der nördlich an die Grabkammer anschließt, erheben sich hohe Portale, verkleidet mit blauen, gelben und türkisfarbenen Kacheln, die elaborierte Ornamente und kalligraphische Schriftbänder formen, während das Portal zur Grabkammer ganz mit Gold beschlagen ist – Zeichen der Verehrung des Imams, wie des Reichtums des Schreins.
Die Pilgerstätte ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für Maschhad, doch zugleich ist der Schrein selbst eine Wirtschaftsmacht mit kaum zu unterschätzendem Einfluss im Iran. Über die Jahrhunderte durch Spenden und Schenkungen zu enormem Reichtum gelangt, hat sich die Stiftung „Astan-e Qods-e Razavi“, die das Heiligtum verwaltet, seit der Revolution 1979 zu einem weitverzweigten Firmenimperium entwickelt, das sein Kapital unverhohlen profitorientiert einsetzt und in großem Maßstab im Irak, in Syrien und im Libanon investiert.
Die Stiftung zeigt wie kaum eine andere Institution, wie eng im Iran Glaube, Profit und Macht verbunden sind: Die Frömmigkeit des Volkes legitimiert das religiöse Regime und bringt ihm finanziellen Gewinn, den es zur Stabilisierung seiner Macht nutzen kann. Umgekehrt investiert das Regime in die religiöse Infrastruktur und fördert die Pilgerreisen nach Maschhad und zu anderen Heiligtümern, um seinem Anspruch als Stellvertreter der Imame und als Verteidiger des Islam gerecht zu werden und seine Lesart der Religion unter das Volk zu bringen.
Seit der Revolution 1979 ist der Schrein enorm ausgebaut worden. Zu den alten Hallen und Höfen, die unter den Safaviden und Kadscharen im 17. und 19. Jahrhundert erbaut worden waren, sind zahlreiche Säle und Höfe hinzugekommen, um Platz für die gestiegene Zahl der Pilger zu schaffen, zudem wurden riesige Sanitäranlagen, Einkaufszentren und Tiefgaragen errichtet. Dabei stand die Entwicklung ganz im Zeichen der Effizienz, wie die Architektin und Anthropologin Samar Saremi berichtet, die zur Baugeschichte des Schreins forscht.
Rolltreppen in der mittelalterlichen Architektur
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