Die lebendigen Toten

Nahid Shirpishe und ihr Ehemann haben bei den Protesten gegen die Benzinpreiserhöhungen im Iran ihren Sohn verloren. Der 27-Jährige Pooya wurde bei den Unruhen erschossen. Nun hofft seine Mutter, dass sein Tod nicht vergeblich war – und die Proteste weitergehen. 
Von Nasrin Bassiri
Bis zum 16. November 2019 waren Nahid Shirpishe, ihr Ehemann Manuchehr Bakhtyari und der unverheiratete Sohn Pooya eine glückliche Familie. Der Vater besaß eine Werkstatt, in der Pistazien gehobelt und zu Pulver verarbeitet wurden. Der 27-jährige Pooya war Elektroingenieur. Die Familie wohnte im Bezirk Mehr-Shahr in der Stadt Karaj nahe Teheran. Ihre 150 Quadratmeter große Wohnung hatte drei Schlafräume, die Familie besaß zwei Autos: ein zufriedenes Leben.

Pooya Bakhtiyari
Pooya Bakhtiyari

Pooya war beinahe 1,90 groß, sah gut aus, sprach sehr gut Englisch und verdiente als Geschäftsführer der Familienwerkstatt gut. Die Mutter Nahid unterrichtete seit 28 Jahren als Lehrerin an der Grundschule. Der Nachrichtenwebseite Iran Wire sagte sie, Pooya habe sein Leben genossen, er sei in die einfachen Dinge des Lebens verliebt gewesen. Er liebte Literatur und Gedichte, interessierte sich für Kalligraphie und iranische Geschichte, aber auch für die Natur, für Bergsteigen, Radfahren und Volleyball, er achtete auf die Umwelt und genoss es, Blumen zu säen und wachsen zu sehen. Er liebte sogar Würmer und Insekten: „Auch sie sind Lebewesen und man soll sie respektieren“, habe er zu seiner Mutter gesagt. Seit drei Jahren war er Vegetarier und fand es ein „no go“, Tiere zu schlachten.
Vater Manouchehr sagt im Gespräch mit dem Iran Journal: “Pooya liebte seinen Großvater über alles, und jetzt, wo Pooya nicht mehr da ist, will der Großvater auch nicht mehr leben.“
„Am 16. November“, erzählt Nahid Shirpishe, ein Samstag – im Iran der Wochenanfang – „bin ich wie immer um sieben Uhr aufgestanden und habe das Haus Richtung Schule verlassen.“ Einen Tag zuvor war im Iran der Benzinpreis massiv erhöht worden. „Bei der Rückfahrt am Mittag steckte ich in einem endlosen Stau. Die Autobahnen und Straßen waren verstopft, ich war erst um 15 Uhr zuhause.“
Ihr Sohn Pooya sei in der Regel zum gemeinsamen Mittagessen aus der Werkstatt auch nach Hause gekommen. „Aber an dem Tag war er nicht da. Als er später kam, war er sehr erregt und hat hastig gegessen. Er sagte: Draußen ist viel los, kommst Du mit, Mama? Ich sage, ja, unter der Bedingung, dass wir Hand in Hand gehen und einander nicht loslassen; sollte uns etwas zustoßen, wären wir zusammen.“ Draußen habe es geschneit, Pooya gab seiner Mutter einer Schutzmaske, „die er aus Fürsorge für mich gekauft hatte“.


Die Schüsse
Im Tränengasnebel bei den Protesten gegen die Benzinpreiserhöhungen wurden Mutter und Sohn dennoch getrennt. „Einige Minuten später rief er mich an und fragte, wo ich sei. Er sagte, ich solle seine Schwester suchen, die auch auf der Demonstration war, und bei ihr bleiben. Zehn Minuten später hörte ich Schüsse und dachte, es seien Schüsse in die Luft, um die Menge zu zerstreuen.“ Denn auch Nahids Tochter Mona war bei den Protesten: „Wir haben als Familie stets versucht, unsere Stimme auch öffentlich zu erheben“, sagt Nahid.
Einer BBC-Reporterin sagte Nahid später: „Können Sie glauben, dass ich nur zehn Minuten, bevor es geschah, bevor ich den leblosen Körper meines Sohnes sah, der von Demonstranten in unsere Richtung getragen wurde, zu meiner Tochter gesagt hatte: Mona, das ist einer der schönsten Tage meines Lebens? Denn ich hörte den Ruf nach Gerechtigkeit, ich sah die protestierende Menge und dachte, die Proteste werden weiter gehen.“
In Aufnahmen, die Pooya kurz vor seinem Tod gemacht hatte, hört man ihn rufen: „Ich riskiere mein Leben, auch ich bin der Sohn von jemanden!“ Und kurz bevor die Schüsse fallen, ironisch: „Meine Schuhe sind zerrissen! Meine Schuhe sind der Revolution zum Opfer gefallen!“
Nach dem gewaltsamen Tod ihres Sohnes konnte Nahid eine Woche lang nicht sprechen, berichten soziale Netzwerke. Dort sind in den ersten Tagen nach dem Ereignis nur Pooyas Vater und sein Großvater zu sehen.
Heute spricht Nahid mit internationalen Medien und nimmt auch selbst Videobotschaften auf, die sie der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Sie sagt: „Ich vermisse seine Stimme. Jeden Morgen, wenn er Geräusche hörte, rief er aus seinem Schlafzimmer: Guten Morgen, Mama! Seit dem 16. November ist seine Stimme erloschen. Er fehlt mir jede Sekunde, das ist sehr bitter für mich.“ Sie wünsche sich, dass der Baum, den Pooya gepflanzt habe, Früchte trage: „Das Einzige, das mich heute tröstet, ist, dass die Proteste weitergehen und das Schweigen nicht siegt.“
  © Iran Journal

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