Was muss Khamenei wollen?
Erstmalig hat der Iran nun offiziell bekannt gegeben, welche Kompromisse er akzeptiert und teils sogar bereits in die Tat umgesetzt hat, um ein Ende des Atomkonflikts zu ermöglichen. Doch nicht das Atomprogramm allein liegt momentan auf dem Verhandlungstisch. Es wird auch über das iranische Militärpotential gesprochen, vor allem über ballistische Raketen.
In Teheran und in Washington sagen die Männer an der Staatsspitze dasselbe zur selben Zeit – und meinen trotzdem völlig Verschiedenes. In der Sache sind sich Barack Obama und Ayatollah Ali Khamenei offenbar einig. Beide sagten vorige Woche den gleichen Satz: „Wir wollen keine Verlängerung.“
Rückzug an historischem Tag
Den Anfang machte Ali Khamenei am 8. Februar in Teheran vor einem mit Bedacht gewählten Publikum. Der Tag hat in der Geschichte der Islamischen Revolution einen hohen Symbolwert: Drei Tage vor dem völligen Zusammenbruch der iranischen Monarchie vor 36 Jahren desertierten Hunderte Luftwaffenkadetten und marschierten geordnet und uniformiert in eine Mädchenschule, wo der Gründer der Islamischen Republik Ayatollah Khomeini täglich Menschenmengen aus allen Teilen des Landes empfing. Viel Macht hatten diese unterprivilegierten Offiziersanwärter damals nicht, doch ihre Parade, deren imposantes Bild tags darauf in allen Zeitungen der Welt zu sehen war, bedeutete in jenen turbulenten Tagen nicht mehr und nicht weniger als den Frontwechsel der königlichen Armee.
In diesem Jahr waren es allerdings keine Kadetten, sondern die obersten Befehlshaber verschiedener Militärgattungen, die Khamenei an diesem bemerkenswerten Tag um sich versammelt hatte. Auch diese Audienz wurde zu einem markanten Wendepunkt der iranischen Macht- und der Atompolitik. Khameneis Rede war ein geordneter Rückzug, ein überlegter und weiter Sprung über den eigenen Schatten. Seine Ansprache hatte nur ein einziges Thema: den Stand der Atomverhandlungen und wie er sich das Ende des Konflikts vorstellt.
Geschluckte Kröten, bis jetzt geheim
Schon zu Beginn seiner kurzen aber präzisen Rede stellte der Ayatollah klar, dass er und nur er Herr des Verfahrens sei. Er bestimme alles, selbst Form und Feinheiten der laufenden Verhandlungen. Sein Lob für den iranischen Außenminister Javad Sarif und dessen Verhandlungsteam hörte sich an wie Streicheleinheiten des Herrn für seine Untergebenen. Vergessen waren auf einmal jene üblichen Schachtelsätze, die Khamenei in der Vergangenheit stets wiederholte, wenn es um Atom und Amerika ging. Vergessen ist sein berühmter und millionenfach zitierter Satz: „Ich bin ein Revolutionär und kein Diplomat – ein positives Ergebnis sehe ich am Ende dieser Verhandlungen nicht.“
Am 8. Februar sprach jedoch weder ein Revolutionär noch ein Ayatollah, sondern ein waschechter Diplomat, der ein verworrenes Knäuel zu entwirren versuchte. „Wie die Amerikaner bin ich auch der Meinung, dass kein Vertrag besser ist als ein schlechter Vertrag.“ Mit diesem Satz stieg Khamenei in das Thema ein und erläuterte, was er unter einem guten Vertrag versteht und warum er möchte, dass die Verhandlungen so schnell wie möglich zu Ende geführt werden. Spektakulär waren jedoch seine Ausführungen, was die iranische Seite bereits akzeptiert und in die Tat umgesetzt hat: „Um eine Einigung zu erreichen, entwickeln wir längst keine neue Zentrifugen mehr. Die 20-prozentige Urananreicherung haben wir gestoppt. Der Schwerwasserreaktor in Arak wurde ebenso geschlossen wie die Anlage in Fordo. Wir haben rational und logisch gehandelt, während die Gegenseite dauernd mehr verlangt.“
Alle diese Details gehörten vor dem 8. Februar offiziell zu den roten Linien, die niemand überschreiten durfte. Daher wagten vor dieser Ansprache weder Journalisten noch Experten, nicht einmal Präsident Hassan Rouhani oder Außenminister Sarif, zuzugeben, welche Kompromisse der Iran bereits akzeptiert hat. Weit ist der Schattensprung, der manch einen glühenden und überzeugten Anhänger in geistige Verwirrung versetzen kann.
Den Giftbecher muss man trinken
Die politische Tragweite dieser 180-Grad-Kehrtwende kennt niemand besser als Khamenei selbst. Deshalb verglich er seinen politischen Salto mortale mit dem „Giftbecher“, den sein Vorgänger Khomeini nach eigenem Bekunden trinken musste, als er der UN-Resolution Nummer 598 zustimmte. Diese Zahl kennt jeder Iraner. Sie bedeutet Aufatmen, Feuerpause und das Ende des achtjährigen Krieges mit dem Irak. „So wie wir damals mit der Zustimmung zur Resolution 598 unsere Vernunft und unsere Logik bewiesen haben, so tun wir das heute in der Atompolitik“, so Khamenei.
Niemand kann heute, 27 Jahre danach, gegen diese Resolution sein, nicht einmal die bei der Rede anwesenden mächtigen Militärkommandeure, die von diesem mörderischen Krieg immer noch zehren und ihn als ihren großen Sieg feiern.
Mit diesem Auftritt demonstrierte Khamenei erneut seine uneingeschränkte Macht, er verwies zugleich alle radikalen Kritiker der Atomverhandlungen in ihre Schranken. Und im Kreis der omnipotenten Kommandeure der Revolutionsgarde, in deren Machtbereich das Atomprogramm gehört, bedeutet diese Wende eine neue Ära.
Am Ende seiner Rede machte Khamenei deutlich, dass er eine schnelle Lösung und eine baldige Lockerung der Sanktionen erreichen möchte. Die Gespräche dürften nicht unnötig in die Länge gezogen werden, eine Verlängerung der Verhandlungen sei nicht im Interesse des Iran. Man solle schon in der ersten Sitzung einen guten Vertrag abschließen, der keinen Raum für unnötige Interpretationen zulasse, so die Empfehlung des Revolutionsführers.
Obama verlangt politischen Willen
Auch die USA drängen auf eine schnellen Lösung. Doch jene Schnelligkeit, die Khamenei vorschwebt, passt den westlichen Verhandlungspartnern, vor allem den Amerikanern, nicht. Denn es geht längst nicht mehr nur um das Atomprogramm und dessen technische Überwachung. Nur wenige Stunden nach Khameneis Rede sagte US-Präsident Barack Obama bei einer Pressekonferenz und in Anwesenheit von Angela Merkel: „Wir wissen jetzt, dass die zu lösenden Punkte nicht technischer Natur sind, sondern es um den politischen Willen geht, eine Einigung zu erzielen.“ Was ist dieser politische Wille, den Obama verlangt? Was muss Khamenei in dieser von Krieg und Bürgerkriegen heimgesuchten Region wollen? Darauf darf sich nun jeder seinen eigenen Reim machen. Soll er im Irak die zahlreichen schiitischen Milizen bändigen? Soll er die Huthi-Rebellen im Jemen zum Machtverzicht aufrufen oder soll er seine Einmischung in Syrien beenden? All das wird er und muss er nicht tun. In all diesen Ländern bekämpfen Iraner und Amerikaner den gemeinsamen Feind: den „Islamischen Staat“ und Al Kaida. Jeder zwar für sich und auf eigene Rechnung. De facto aber als Koalition, deshalb vermeidet man auch Konfrontationen.
Reichweite, Ballistik und Militärpotential
Die eigentlich Mächtigen im Iran – die Revolutionsgarden – meinen längst zu wissen, was auf dem Verhandlungstisch liegt und damit auf dem Spiel steht. Es geht offenbar um die iranischen Raketen, vor allem jene mit mittleren Reichweiten. Massud Djazayeri, Vizekommandeur der Revolutionsgarden und einer der Anwesenden bei der bemerkenswerten Audienz bei Khamenei, berief eine Woche später eine Pressekonferenz ein und sprach klare Worte: „Wir werden weder den Amerikanern noch irgendeiner anderen Macht erlauben, in unseren Verteidigungsangelegenheiten zu schnüffeln. Über seine Raketen verhandelt der Iran mit niemandem.“
Hart mögen die Worte des Kommandanten sein, doch offenbar sind sie nicht wahrheitsgetreu. Denn am selben Tag sagte Jen Psaki, Sprecherin des US-Außenministeriums, die USA seien sehr besorgt über die ballistischen Raketen des Iran, sie stellten eine große Gefahr für die Region und die Welt dar – deshalb werde auch bei den Atomgesprächen über diese Raketen gesprochen.
ALI SADRZADEH