Eine ganz herrliche Sackgasse
„Ich bin ein Geistlicher, der seit zehn Jahren im schiitischen Lehrseminar in Maschhad studiert. Und ich darf von mir behaupten, dass ich das Seminar und die Seminaristen sehr gut kenne. Mein Fazit: Die Apostasie breitet sich unter den Geistlichen rasant aus. Ein dreifaches Feuer frisst sich durch unsere Köpfe hindurch: Modernität, Globalisierung und Geisteswissenschaft. Und niemand vermag dieses Feuer zu löschen. Viele meiner Kommilitonen bekennen sich in Zwiegesprächen zum Atheismus oder bezeichnen sie sich als Agnostiker. Die herrschenden Normen in unseren Seminaren sind zu alt und daher unbrauchbar, um dem Prozess des geistigen Zerfalls Einhalt zu gebieten.“
Der junge Geistliche, der mit diesen Zeilen offen Alarm schlägt, heißt Javad Sharifi und ist unter den Seminaristen als engagierter Aktivst und als regimetreu bekannt – sogar über Maschhad hinaus. Alles, was er schreibe, gehöre zwar zu verbotenen Geheimnissen der schiitischen Seminare, fügt Sharifi hinzu. Doch die Zeit sei reif, offen darüber zu sprechen, woher dieser Zerfall komme und warum die Geistlichkeit hier angelangt sei.
Ein Staat nicht im, sondern über dem Staat
Ungefähr 400.000 Mullahs studieren in etwa 400 Seminaren, Akademien und anderen Ausbildungszentren, über die Staatspräsident Hassan Rouhani keine Kontrolle hat. Obwohl seine Regierung alljährlich für ihre Budgets sorgen muss, darf sie weder bei der Organisation oder Verwaltung noch bei den Lehrinhalten mitreden. Die Geistlichkeit ist ein völlig autarker Organismus. Sie ist nicht ein Staat im, sondern über dem Staat. Die schiitischen Lehrstätten werden von Revolutionsführer Ali Khamenei persönlich kontrolliert und gelten als Kaderschmiede des gesamten Staatsapparats. Sie bilden Richter, Lehrer, Professoren und sogar Diplomaten aus.
Viele Mullahs tragen die Titel Doktor und Professor und als solche sitzen sie auch in verschiedenen Ministerien und Universitäten. Gemäß Verfassung sind bestimmte Posten und Positionen des Staates nur den Geistlichen vorbehalten. Der Chef der Justizbehörde muss ebenso ein Ayatollah sein wie der Geheimdienstminister. Die überwiegende Mehrheit der Richter sind Mullahs und auch die „Zivilisten“ des Justizapparates müssen eine religiöse Ausbildung durchlaufen haben.
Die schiitischen Lehrstätten sind mit modernsten Lehrmitteln ausgestattet, sie bekamen früher und schneller Internetzugang als normale Universitäten des Landes.
Geistige Schizophrenie der Ayatollahs
Der Inhalt der Seminare mag mittelalterlich sein, ihre Hülle jedoch ist modern, sogar viel moderner als die der weltlichen Lehrbetriebe.
Für diese Diskrepanz hat Mehdi Khaladji mehrere Beispiele parat. Der 44-Jährige studierte selbst zehn Jahre im Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit in der heiligen Stadt Qom. Er kennt sich mit den schiitischen Lehrbetrieben bestens aus und hat mehrere Bücher über die Wandlung der schiitischen Geistlichkeit nach der Revolution geschrieben. „Sehen Sie sich Ayatollah Makarem Shirazi an. Er ist das Sinnbild der Widersprüchlichkeit“, sagt Khaladji und beschreibt, wie dieser mächtige Ayatollah in seinem Seminar agiert. „Ayatollah Makarem ist der einflussreichste schiitische Gelehrte in der Islamischen Republik. Er hat Tausende Studenten, die er nicht nur alimentiert, sondern deren künftigen Werdegang er genau verfolgt. Ayatollah Makarem sitzt einem riesigen Wirtschaftsimperium vor. Er besitzt und kontrolliert mehrere Fernsehsender, die weltweit für ihn und seine Ansichten werben. Seine Webseite ist professionell gestaltet und bedient die Besucher in sieben Sprachen, Spanisch und Russisch inklusive. Auf Makarems Webseite kann man mit Kreditkarten seinen religiösen Obolus entrichten. Doch genau dieser Ayatollah ist ein ausgesprochener Gegner des Internets und tritt für möglichst strenge Zensur ein.“
Ayatollah Makarem personifiziere jene Widersprüche, in der die schiitische Geistlichkeit lebe oder leben müsse, sagt Khaladji. Globalisierung und Moderne vereinigten sich in seiner Person mit Mittelalter und Engstirnigkeit. Warum und wie ein Großayatollah mit dieser kulturellen Schizophrenie zurechtkommen kann, ist ein Thema für sich. Vielleicht kompensiere die enorme Macht, die er ausübt, das alles und schaffe die notwendige Verdrängung, doch die Mullahs in den niedrigeren Rängen gerieten wegen dieser Diskrepanz zunehmend in eine geistige Sackgasse. Das sei aber „eine ganz herrliche Sackgasse“, sagt Khaladji, denn gerade und nur aus dieser Ausweglosigkeit könne sich irgendwann ein rettender Weg bahnen.♦
© Iran Journal 2018
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