Das Jahr der Ungewissheiten

2016 wollte Irans Präsident Hassan Rouhani die Früchte seiner Mäßigung ernten. Das Atomabkommen war unter Dach und Fach, die Welt bescheinigte ihm Vertragstreue, Sanktionen sollten aufgehoben werden, ausländische Investoren in den Iran zurückkehren. Doch kurz vor dem Jahreswechsel überschlugen sich die Hiobsbotschaften. Erst war von neuen US-Sanktionen die Rede, dann kam die Nachricht über die Hinrichtung eines schiitischen Geistlichen in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad. Das brennende Botschaftsgebäude der Saudis in Teheran und der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit den Golfstaaten sind vorläufige Höhepunkte. Doch die Eskalation dauert an.
„Ein gutes Jahr zeigt sich schon von Anbeginn“: Dieses persische Sprichwort mag man als Ironie verstehen, denn wenn es benutzt wird, kündigt es stets eine schlechte Aussicht an. Kein Wunder, dass man die Phrase seit Beginn des neuen Jahres tausendfach und in unterschiedlichen Variationen in iranischen Medien lesen kann. Denn kurz vor und nach dem Jahreswechsel wurde das Land mit zwei Ereignissen konfrontiert, die die Außen- und Innenpolitik Irans im nächsten Jahr, manche sagen sogar, darüber hinaus prägen werden. Es geht um eine Massenhinrichtung in Saudi-Arabien, um brennende Botschaften, um Raketenprogramm, Syrien, Sanktionen, kurz um alles, was derzeit den Niedergang der Region beschleunigt – Spannungen mit den USA inklusive. Dabei taucht immer die Frage auf, wie schlimm das kommende Jahr tatsächlich sein und wie Präsident Rouhani mit diesen Hiobsbotschaften umgehen wird. Der wollte den IranerInnen eigentlich das Tor zu einer friedlicheren Welt öffnen.
Der gute Iran
Kurz bevor das Jahr zu Ende ging, meldeten alle Nachrichtenagenturen und Zeitungen der Welt zwei gegensätzliche Meldungen an prominenter Stelle. Ort beider Ereignisse war der Persische Golf. Erst kam die gute Nachricht: Iran hält sich an seine Verpflichtungen und verschiffte an einem unbekannten Hafen fast 13 Tonnen leicht- und mittelangereichertes Uran nach Russland, wo das nukleare Material vereinbarungsgemäß zwischengelagert werden soll. US-Außenminister John Kerry konnte seine Freude über diese Meldung kaum verbergen und sprach wie viele andere Politiker im Westen auch von einem wichtigen Schritt zur Aufhebung der Sanktionen gegen die Islamische Republik. Viele westliche Kommentatoren gingen noch weiter und schrieben, die Zeit sei reif, anders mit dem Iran umzugehen, denn man brauche das Land in vielen Krisenherden der Region. 
Der Schurke ist wieder da
Doch die Freude im In- und Ausland währte nicht einmal 24 Stunden, dann kam die zweite Meldung: Iranische Marineschiffe im Persischen Golf hätten nach Angaben des US-Militärs nahe des Flugzeugträgers USS Harry S. Truman Raketen abgefeuert. Eine Benachrichtigung über den Abschuss sei erst 23 Minuten zuvor erfolgt. Über diese kurze Warnzeit zeigten sich die Amerikaner sehr verwundert, denn die Seestreitkräfte beider Länder arbeiteten im Persischen Golf sonst routiniert zusammen. Doch diesmal sei das US-Schiff nur 1.500 Meter vom nächsten Einschlag entfernt gewesen. Das Vorgehen sei deshalb „äußerst provokativ“, befand das US-Zentralkommando.
Kaum war die Meldung über den Zwischenfall in der Welt, war plötzlich die alte Ordnung wieder hergestellt. Zufall oder nicht: Die US-Medien, allen voran CNN und Wallstreet Journal, berichteten tags darauf, erstmals seit dem historischen Atomabkommen mit dem Iran bereiteten die USA neue Sanktionen gegen das Land vor. Die Strafmaßnahmen sollen sich gegen fast ein Dutzend Firmen und Einzelpersonen im Iran, in Hongkong und den Vereinigten Arabischen Emiraten richten. Grund sei die mutmaßliche Mithilfe bei der Entwicklung des iranischen Raketenprogramms.
Also zurück auf Anfang, als ob es das weltweit gelobte Atomabkommen nie gegeben hätte? Bleiben die Sanktionen ebenso bestehen wie die gefährlichen Spannungen mit den USA? Das seien die Früchte der „Diplomatie des Lächelns“, spöttelte am nächsten Tag die der iranischen Revolutionsgarde gehörende Webseite FARS News. Jeder wusste, wer gemeint war: der iranische Außenminister Javad Zarif, an dessen Dauerlächeln iranische Karikaturisten derzeit alles mögliche ausprobieren – nicht immer spöttisch. Am selben Tag schrieb Federica Mogherini in der Washington Post: „Give diplomacy with Iran a chance“. Adressaten der Koordinatorin der EU-Außenpolitik waren keineswegs die Radikalen in Teheran, sondern jene in Washington.

Hunderte Demonstranten protestieren gegen die Hinrichtung von Scheich Nimr al-Nimr vor der saudischen Botschaft in Teheran
Hunderte Demonstranten protestieren gegen die Hinrichtung von Scheich Nimr al-Nimr vor der saudischen Botschaft in Teheran

Fragen über Fragen
Dabei stellen sich – nicht nur für Frau Mogherini – Fragen, für die man keine rationale Antwort finden kann: Warum diese Sanktionen, warum gerade jetzt, nachdem der Iran eingelenkt und seine Verpflichtung voll eingelöst hatte? Und noch eine viel wichtigere Frage: Hat es diesen Zwischenfall im Persischen Golf überhaupt gegeben?
Hossein Salami, einer der wichtigsten Männer der Revolutionsgarde, hat dies ausdrücklich und vehement bestritten. Der 55-jährige Vizekommandant ist in der Hierarchie der Revolutionsgarden der zweite Mann und qua Amt befugt, so etwas zu sagen. Immer wenn die omnipotente Truppe der Welt etwas mitzuteilen hat, ist Salami, der in der Militärakademie der Garde Verteidigungsstrategien lehrt, zur Stelle. Wenige Stunden nach den Meldungen über die neuen Sanktionen gegen den Iran erklärte der Kriegsveteran, im Persischen Golf habe es in den vergangenen Tagen gar keine Aktionen gegeben, und das wüssten die amerikanischen Militärs in der Region genau. Damit auch jeder von diesem Dementi erfuhr, trat der redegewandte Kommandant tags darauf als Hauptredner beim Freitagsgebet in Teheran auf. Die unterirdischen Raketenarsenale des Iran seien voll, das zuzugeben sei eine Ehre, aber eine Militäraktion der Garden im Persischen Golf habe es nicht gegeben, sagte Salami am ersten Tag des Jahres vor den Betenden auf dem Campus der Teheraner Universität.
Rouhani in der Zwickmühle
Atomabkommen hin, diplomatisches Lächeln her: Die USA würden sich nie an Vereinbarungen halten. Das wiederholen die Radikalen in Teheran seit einer Woche, lauter und häufiger denn je. In Erklärungsnot geraten, verurteilte Präsident Rouhani zunächst die angekündigten Sanktionen und warnte Washington vor einer „feindlichen und illegalen Intervention“. Um seiner Warnung Nachdruck zu verleihen, äußerte er sich in derselben Erklärung auch demonstrativ über die Zukunft des iranischen Raketenprogramms. In einem Brief forderte er seinen Verteidigungsminister auf, das Programm auszuweiten, falls die USA neue Sanktionen erlassen sollten. Der Präsident weiß allerdings selbst, dass er im politischen Machtgeflecht des Iran nicht viel zu sagen hat, wenn es um Raketentechnologie geht.
Echte Drohung oder nur verbale Eskalation, was auch immer. Am Silvesterabend meldeten CNN und Wallstreet Journal, die USA hätten sich entschlossen, die neuen Sanktionen gegen den Iran zunächst zu verschieben. Das Damoklesschwert aber bleibt, so Washingtons Botschaft für das neue Jahr.
Die Hinrichtung des saudischen Schiitenführers Scheich Nimr al Nimr hat weltweit zu Protesten geführt.
Die Hinrichtung des saudischen Schiitenführers Scheich Nimr al Nimr hat weltweit zu Protesten geführt.

„Zeichen Gottes“ geköpft
Doch diese Vertagung sollte eine vorübergehende Atempause für Rouhani sein. Die noch gefährlichere innen- und außenpolitische Bedrohung kündigte sich mit aller Wucht am zweiten Tag des neuen Jahres an. Die Nachricht über die Hinrichtung des saudischen Schiitenführers Scheich Nimr al Nimr, die im Iran als Provokation empfunden wurde, setzte eine Spirale der Spannung in Gang, deren Ausgang noch völlig ungewiss ist. Denn sowohl in Saudi-Arabien als auch im Iran sind einflussreiche Hitzköpfe am Werk, die den Gang der Ereignisse bestimmen können – und sie sind offenbar zu allem entschlossen. Wenige Stunden nach der Hinrichtung des Scheichs begaben sich nur einige Hundert Demonstranten zur saudischen Botschaft in Teheran und ebenso viele zum saudischen Konsulat im 900 Kilometer entfernten Maschad im Nordosten des Landes. Doch sie machten Weltpolitik.
Die Radikalen prägen das Bild
Denn in wenigen Minuten waren die Bilder der brennenden Diplomatengebäuden in der ganzen Welt zu sehen, und alle Welt sprach von einem beginnenden Flächenbrand in der Region. Es dauerte mehr als zehn Stunden, bis Rouhani nicht nur die Hinrichtung des Ayatollah Nimr, sondern auch die Angriffe auf die diplomatischen Vertretungen Saudi-Arabiens verurteilte: Alle Verantwortlichen der Islamischen Republik seien entschlossen, „sich für den Schutz ausländischer Konsulate und Botschaften einzusetzen“, so der Präsident. Ein notwendiger Hinweis an die Radikalen, um klarzustellen, diesmal sei auch der iranische Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei gegen die Stürmung der Vertretungen. Danach trat der iranische Generalstaatsanwalt mit der Nachricht vor die Presse, 47 gewalttätige Demonstranten seien festgenommen worden. Doch all diesen Versuchen der Mäßigung zum Trotz dreht Saudi-Arabien weiter an der Spirale der Spannung. Am Samstag brach das Königreich die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab, es folgten die Verbündeten am Golf, und selbst Ägypten zeigte sich mit Saudi-Arabien solidarisch. Wohin diese Eskalation führt, ist ungewiss. Doch eine direkte militärische Auseinandersetzung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien ist derzeit nicht vorstellbar – noch nicht.
ALI  SADRZADEH