Angriff auf Iran: Naht Armageddon? Warum die Attacke auf ein Krankenhaus?

Ein Kommenrar von Ali Sadrzadeh

Wo Ali Khamenei sich versteckt, ist ungewiss. Im Norden Teherans? In seiner Heimatstadt Maschhad? Oder in einem Tunnel unter seiner Residenz? Die Debatte über sein Versteck ist zweitrangig; wer es wissen will, weiß es. Donald Trump und Benjamin Netanjahu haben öffentlich und wiederholt verkündet, sie wüssten, wo er sich aufhält, sie dächten auch über seine Tötung nach.

Nicht immer, aber in diesem Fall kann man Netanjahu mit ziemlicher Sicherheit Glauben schenken. Denn er weiß viel, fast alles, was in unmittelbarer Nähe Khameneis geschieht. Die Umstände, unter denen zwanzig hochrangige Generäle und sechs Atomwissenschaftler Irans bereits in der ersten Kriegsnacht getötet wurden, beweisen, dass der Mossad sich dort eingenistet hat, wo es niemand vermutet hatte.

Es ist eine geschichtlich beispiellose Wühlarbeit, bis hin zum Gehirn Irans. Israel hat quasi die gesamten iranischen Militärsparten enthauptet; und die Mehrheit dieser Männer fand ihren nächtlichen Tod in ihren Schlafzimmern. Ihre Wohnadressen waren Geheimnisse ersten Ranges, ein Normalsterblicher hätte in Normalzeiten nicht einmal daran zu denken gewagt, sich unerlaubt in den Straßen und Vierteln aufzuhalten, in denen sie wohnten. Die Geschosse, mit denen diesen Topgeneräle und -manager getötet wurden, kamen aus nächster Nähe, monatelange Vorbereitungen waren vorausgegangen, damit sie sekundengenau zu Beginn der Aktion „Rising Lion“ präzise ihre menschlichen Ziele erreichen konnten.

Kurzum, Israel bzw. die USA können mit ziemlicher Sicherheit auch Khamenei töten. Wenn sie es wollen. Wollen sie es? Ist die Zeit dafür reif? Ist das in ihrem Interesse?

Doch die noch viel wichtigere Frage, die das Schicksal des Krieges, des Iran und das der Region bestimmt, lautet: Bereitet sich auch Khamenei darauf vor, als Märtyrer in die Geschichte einzugehen? Oder kann er sich einen diplomatischen Ausgang aus der größten Krise seines Landes vorstellen?

Zu behaupten, man wisse, was er denkt, was sein nächster Schritt sein wird und wie er die Zukunft seiner „Republik“ sieht, wäre eine gewagte Behauptung. Er sei nur ein Maulheld, feige, misstrauisch, hasenfüßig, einer, der nur an totale Macht für sich und seinen Sohn denke – das sagen nicht nur seine Gegner oder Kritiker, sondern auch jene aus seiner Familie, die sich von ihm abgewandt haben. Ali Khamenei ist im wahrsten Sinne des Wortes allein. Er ließ zu viele töten, verhaften oder isolieren, die zwar zahme Kritiker, jedoch keine Feinde seiner „Republik“ waren. Der innere Graben seines Systems ist sehr tief. Trotzdem hat er sich bis jetzt an der Macht halten können.

Doch das, was in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni stattfand, änderte seine Welt vollkommen. Aber Khamenei ist weder Bashar Assad noch Saddam Hussein. Weder wird er sich in einem Brunnen verstecken, noch kann er an Flucht denken – denn es gibt einfach kein Land, in das er fliehen könnte. Nach Russland nicht, und auch kein arabisches Land würde ihn aufnehmen wollen oder können.

Alles Ideologische ebenso wie Politische, was dieser Mann seit seiner „Wahl“ zum Obersten Führer der Islamischen Republik vor 36 Jahren gesagt und getan hat, war nicht allein Propaganda. All das, was wir von ihm hören und hörten, sagt er praktisch seit seiner Kindheit, nur seine Formulierungen änderten sich, mit seinem Alter wuchsen auch seine rhetorischen Fähigkeiten. Doch der Inhalt blieb gleich. Gelernt hat er seine Lektion von seinem Lehrer Sayyid Qutb, dem wichtigsten Vordenker der Muslimbruderschaft. Seinen Abscheu gegen alles Westliche ebenso wie seinen unverbrüchlichen Israelhass hat er von sunnitischen Salafisten, doch seine Bereitschaft, zu sterben, wurzelt in seinem schiitischen Glauben.

Nur wenige Stunden nach Khameneis Videobotschaft aus seinem Versteck traf eine iranische Rakete ein Krankenhaus in Beer Sheva. Es wurde zu einer Breaking News dieses Krieges, die Bilder der Verletzten gingen viral, die Sympathie der internationalen Öffentlichkeit für Israel bekam weitere Bestätigung, während Iran seit dem Start der Rakete offline ist und kaum jemand erfährt, was israelische Bombardements dort anrichten.

Militärisch hatte diese Rakete, die vierzig Zivilisten verletzte, keinen Wert, doch sie war sehr wertvoll für die Legitimierung des Krieges. Khamenei weiß, wie schädlich dieser Beschuss für eine mögliche Diplomatie ist. Aber diese Methode, bar jeglicher Schaden-Nutzen Rechnung solcher Militäraktionen, kennen wir seit Jahren. Die palästinensische Hamas macht es uns seit ihrem Bestehen vor. Es ist eine Art Selbstmordattentat. Man ahnt, ja, man ist sich sicher, dass die israelische Reaktion nach einer solchen Tat massiv und mörderisch sein wird. Trotzdem oder gerade deshalb begeht man sie. Die zynische Logik dahinter lautet: je mehr Opfer, umso mehr Mitleid der Zuschauenden, der Weltöffentlichkeit – eine Art Propaganda und Politik mit toten Zivilisten. Mit dem Unterschied, dass uns aus Gaza die verstörenden Ruinenbilder erreichen, während im Iran alles im Dunkeln, in Abwesenheit der Weltöffentlichkeit geschieht.

Khamenei verzichtet auf internationales Mitleid, er sucht nach dem Tod. Denn er ist sich bewusst, dass seine Situation mit der Hitlers in seinem Bunker vergleichbar ist. Er will als schiitischer Märtyrer in die Geschichte eingehen, nicht als Geflüchteter in einem Ausland, das es für ihn nicht gibt. Und Israel will seinen Wunsch offenbar erfüllen: Der israelische Verteidigungsminister Katz erklärte nach dem Raketenbeschuss auf das Krankenhaus in Tel Aviv: „Khamenei ist ein moderner Hitler. Er darf nicht weiter existieren.“

Doch dieser falsche und gefährliche Vergleich, den auch viele andere im Westen begehen, ist Katz‘ Kardinalfehler. Weder ist Khamenei Hitler, noch ist Iran der deutsche NS-Staat von 1945; von der Lage der Juden in beiden Staaten ganz abgesehen. Mit dieser Assoziation ziehen viele Deutsche eine falsche Parallele: Verschwindet der Kopf, verschwindet auch der Körper und mit ihm alles Schreckliche. Und viele Iraner*innen hegen ähnliche Hoffnungen.

Doch die Mafia, die sich „Republik“ nennt, ist mehr als Ali Khamenei. Sie ist weit vernetzt, hat nicht nur Makro-, sondern und vor allem Mikrostrukturen. Und sie beherrscht ihr Handwerk – die Repression – meisterhaft, auch und vor allem in Kriegszeiten, wie wir seit einer Woche bestens beobachten können. Gäbe es eine organisierte, schlagkräftige Opposition, sähe die Welt der Iraner*innen anders aus. Mehr als siebzig Prozent der iranischen Bevölkerung seien unzufrieden, sagen die offiziellen Daten. Doch mit Unzufriedenheit allein lässt sich kein Staat machen.

Foto: Khamenei.ir