Die 68er-Bewegung und die Iraner in Deutschland
Für die linken Akademiker der 67er Generation galt es zu jener Zeit in Europa, die für Jahrzehnte abgeschnittenen Traditionszusammenhänge in der Theoriebildung wieder aufzugreifen, zu überprüfen und erneut einzubringen. Aufzugreifen waren dabei der Marxismus, die Psychoanalyse, die analytische Sozialpsychologie sowie die Kapitalismus-, Klassen- und Imperialismus-Theorie.
Bei den Iranern lief derselbe Prozess mit einer kleinen Phasenverschiebung ab. Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus verbrachten die Anhänger des Sowjetkommunismus im Iran längere Zeit in der ideologischen Abgeschiedenheit. Ein Teil der kommunistischen Linken des Iran war eine Zeit lang von der maoistischen Schule des Marxismus-Leninismus begeistert, insbesondere in der Zeit der chinesischen Kulturrevolution von 1966 bis 1976. Das sowjetische System wurde von ihnen als „Sozialimperialismus“ abgelehnt. Neben China wurden neue Vorbilder in Albanien, Kuba und Nord-Vietnam gesucht.
Mit dieser Entwicklung konnten sich jedoch die kritischen CISNU-Mitglieder nicht anfreunden. Das galt insbesondere für diejenigen, die sich mit der fehlgeleiteten politischen Entwicklung der CISNU und ihrer dem bewaffneten Kampf der Untergrundgruppen geltenden Gefolgschaft nicht abfinden konnten. Der Widerspruch galt der noch geltenden „Diktatur des Proletariats“ und ihrer Durchsetzung durch den bewaffneten Kampf. Adorno hatte ja, nach Jürgen Habermas, den Marxismus vom Proletariat befreit und daher auch die Frage der Praxis anders gestellt.
Bis zur Mitte der siebziger Jahre hatte die CISNU-Führung ihren Sitz in Frankfurt am Main. Hier fand auch die theoretische Auseinandersetzung der rebellischen Studenten mit Theodor W. Adorno statt. Führender Kopf dieser Auseinandersetzung war Hans Jürgen Krahl, der in den Vorlesungen von Adorno das Wort ergriff und brillant auf die Widersprüche der kritischen Theorie hinwies. Eines der Vorstandmitglieder der CISNU war zu dieser Zeit der theoretisch und praktisch an der Frankfurter Schule interessierte Changiz Pahlavan. Er, der die Anti-Schah-Demonstrationen in den Juni-Tagen 1967 verantwortlich organisiert hat, saß bei den theoretischen Auseinandersetzungen zwischen Krahl und Adorno mit im Hörsaal.
Pahlavan war einer der ersten Iraner, die sich mit der Frankfurter Schule und ihrer Kritischen Theorie befassten. Ihm folgte eine Reihe Jüngerer, die den Anschluss an die Frankfurter Schule suchten. Einige von ihnen zogen sich aus der Oppositionsarbeit zurück, sie gingen nach ihrem Soziologie- und Philosophiestudium in den Iran zurück. Neben Adorno befassten sie sich hauptsächlich mit Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm und Jürgen Habermas.
Die Werke werden übersetzt
Changiz Pahlavan kehrte 1969 in den Iran zurück. Er übersetzte später eines der Standardwerke über die Frankfurter Schule. Das von dem amerikanischen Wissenschaftler Martin Jay geschriebene Buch mit dem Titel „The Dialectical Imagination, A History oft the Frankfurt School and the Institut of Social Research, 1923-1950“ wurde nach der ersten Ausgabe von Pahlavan ins Persische übersetzt und, für iranische Verhältnisse, in hohen Auflagen verkauft.
Die zweite und dritte Generation der iranischen Linken kam zum Teil auf Umwegen zur Frankfurter Schule und ihrer Kritischen Theorie. Zwei Faktoren waren hierfür bestimmend: die Bekanntschaft mit der Postmoderne und die Entstehung einer religiös-intellektuellen Strömung innerhalb des herrschenden politischen Systems. Der erste Faktor bewirkte eine Welle neuer Lesarten im Marxismus. Tatsächlich waren die iranischen Neo-Marxisten bei der Ankunft des Postmodernismus von der Idee beseelt, die Linke könnte, gestützt auf Theoretiker wie Adorno, Horkheimer, Marcuse und Habermas, gegen “Feinde des Rationalen”, “Mystiker” und “postmodernen Relativisten” bestehen, ohne in Dogmatismus zu geraten oder sich wieder der gescheiterten sowjetischen Erfahrung zu widmen.
Der zweite Faktor zwang sie wiederum zur Reaktion auf die gegen den Marxismus gerichteten Angriffe der „religiösen Intellektuellen“, namentlich des theoretischen Wortführers der islamischen Reformschule, Abdolkarim Soroush. Dieser übte, seiner intellektuellen Bezugsperson Karl Popper folgend, heftige Kritik am Marxismus. Die marxistische Linke reagierte ihrerseits mit einer Übersetzungsbewegung von Werken kritischer Schulen des Marxismus, um sich methodologisch auf die Debatte mit ihren Gegnern vorzubereiten.
Einen wesentlichen Ansatz fanden sie in den Schriften derjenigen Denker, die als Väter der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie weltweit bekannt waren. In der Auseinandersetzung mit den „idealistischen“ Gegnern des Materialismus wurden Adornos „Philosophische Terminologie“, „Metakritik der Erkenntnistheorie“ und „Negative Dialektik“ in Teilen übersetzt und bei Kontroversen methodologisch herangezogen.
In der damals theoretisch und praktisch angespannten Atmosphäre meldete sich ein neuer Wortführer der neuen Linken, Morad Farhadpour, zu Wort. Neben ihm war auch Yousef Abazari bei der Vorstellung der Werke und Gedanken der Gründungsväter der Frankfurter Schule im Iran von Bedeutung. Abazari übersetzte die von Martin Jay verfasste Arbeit „Die Frankfurter Schule und die Psychoanalyse“. Eine weitere Arbeit Adornos aus dem Jahr 1957, die „Aspekte der Hegelschen Philosophie“, wurde von den drei Neu-Linken Mohammad Mehdi Ardebili, Hessam Salamat und Yeganeh Khoi übersetzt.
Das kleine Buch, das ursprünglich die Rede Adornos zum 125. Todestag Hegels enthalten sollte und später erweitert wurde, sorgte an den iranischen Unis für kontroverse Diskussionen. Adorno sollte aus dem „Hegelschen Graben“ hervor geholt und seine Hegel-Kritik zur Adorno-Kritik umgepolt werden. Am 4. Dezember 2018 wurde im „Kulturzentrum der Buchstadt“ in Teheran über Adornos „Aspekte der Hegelschen Philosophie“ diskutiert. Einer seiner Übersetzer, Mehdi Ardebili, meinte, Adorno habe Hegel umpolen wollen, am Ende aber sei es Adorno gewesen, der nach Hegels Pfeife tanzen musste.
Übersetzt wurde auch Stuart Jeffries Buch „Grand Hotel Abyss: the Lives oft the Frankfurt School“ von Mohammad Memarian. Dieses Buch handelt vom Leben und Denken der Größen der Frankfurter Schule. Für seine Übersetzung wurde das Argument geltend gemacht, dass angesichts der offen zu Tage getretenen Mängel des neoliberalen Kapitalismus die Beschäftigung mit den Vertretern der Frankfurter Schule weiter an Bedeutung gewinne. Die Vertreter der Frankfurter Schule hätten sich mit dem Gedanken der Revolution nicht anfreunden können. Sie hätten den sinnentleerenden Charakter der kapitalistischen Gesellschaft gut erklärt, ohne sie ändern zu können.
Von großem Interesse war bei den iranischen Intellektuellen auch ein 15-seitiges Papier von Elias Canetti mit dem Titel „Discussion with Theodor W. Adorno, Crowds and Power Totalitarism Death Transformation“, das 1996 erschien. Der Übersetzer, Javad Ganji, meint, die Ähnlichkeit im Denken von Canetti und Adorno könne man in ihren Schriften gut verfolgen. Bei beiden sei der Einfluss der Psychoanalyse sichtbar, beide suchten den Ursprung der modernen Massengesellschaft in antiken und mystischen Gesellschaften. Bei beiden Denkern seien keine klaren Grenzen zwischen Philosophie, Geschichte, Psychoanalyse und Soziologie erkennbar, sie wanderten ständig zwischen diesen Bereichen. Beide behandelten die Krise der Repräsentation von Machtinstitutionen und die komplexen Formen der Internalisierung von Herrschaft und Unterwerfung. Diese Aspekte im Denken von Canetti und Adorno sei auch für das Verständnis der Vorgänge im heutigen Iran wesentlich.
Habermas in Teheran
Jürgen Habermas war von jeher für die politisch aktiven Iraner von hohem Interesse. Seine Arbeiten wurden in den vergangenen 30 Jahren nach und nach ins Persische übersetzt. Habermas’ Anwesenheit im Geistesleben der akademischen Iraner war so real, dass er am 11. Mai 2002 auf Einladung des vom ehemaligen Staatspräsidenten Mohammad Khatami errichteten „Zentrums für Dialog der Kulturen“ Teheran besuchte. Seine Vorträge wurden jeweils vom mehr als 3.000 Personen besucht: „So viele Zuhörer habe ich in Deutschland nicht“, sagte Habermas damals in einem Interview.
Er beschrieb seine „philosophischen Erinnerungen“ während seiner Iranreise in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2002 ironisch und nüchtern: In der politisch-kulturellen Atmosphäre des Iran würden die Werke westlicher Denker originell oder gefälscht übersetzt, diskutiert und kritisiert, so Habermas damals. Er erzählt in dem Interview unter anderem von einem religiösen Universitätsdozenten, der von sich behauptete, er habe ebenso wie Karl Marx, der Hegels Theorie auf den Kopf gestellt hatte, Max Webers Theorie auf den Kopf gestellt. Der Westen werde sich deshalb in der Zukunft an ihn wie an Ibn Khaldun mit Respekt erinnern.
Habermas erwähnt auch den „Hauptphilosophen“ der Islamischen Republik, Reza Davari Ardakani, der in den 90er Jahren die Theorien von Martin Heidegger übersetzt und den westlichen Begriff „Moderne“ kritisiert hatte und nun als Leiter der iranischen Akademie der Wissenschaften postmoderne Schulen unterstütze. Zu guter Letzt erinnert sich Habermas an seine Touristenführerin in den Ruinen von Persepolis, die sich als Schülerin von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung outete und zugleich amerikanische Romane liebte. Am Ende des Interviews zitiert Habermas den ägyptischen Nobelpreisträgers Najib Mahfouz, der gesagt hatte, die „Köpfe des Orients“ – gemeint sind orientalische Denker – würden erst dann für die Westler interessant, wenn sie die Hügel herunter rollten.♦
MEHRAN BARATI
© Iran Journal
Dr. Mehran Barati ist einer der exponierten Oppositionellen aus dem Iran. Er ist regelmäßiger unabhängiger Analyst auf BBC Persian und VOA (Voice of America) Persian und gilt als Experte für internationale Beziehungen.
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