Zusammenleben ohne Trauschein – neuer Trend im Iran?
Das Zusammenleben von unverheirateten Paaren ist in der islamischen Republik Iran strikt verboten. Aber die Realität scheint anders auszusehen: Die Zahl unehelicher Lebensgemeinschaften in Teheran soll steigen.
Wenn Paare, die im Iran ohne Trauschein unter einem Dach leben, vom Staat erwischt werden, müssen sie mit drakonischen Strafen rechnen. Zwar gibt es im iranischen Strafgesetzbuch keinen eigenen Paragrafen dafür. Aber da das iranische Rechtssystem auf islamischen Geboten basiert, die außereheliche sexuelle Beziehungen untersagen, können Richter willkürlich entscheiden. Den Paaren drohen Haftstrafen oder Peitschenhiebe.
Trotzdem halten sich angeblich immer weniger junge Menschen an das Verbot. Es gibt zwar keine offiziellen Angaben darüber, wie viele Paare das „illegale Zusammenleben“ wagen. Doch sprach kürzlich ein Mitarbeiter des Teheraner Stadtrats von einer „steigenden Tendenz“. In einem Interview mit der iranischen Nachrichtenagentur ILNA sagte Morteza Talaei: „Wir haben es mit einer neuen, schädlichen gesellschaftlichen Entwicklung zu tun, die gefährliche Folgen mit sich bringt.“ Vor allem in den nördlichen Stadtbezirken Teherans wohnten männliche und weibliche Studierende ohne Trauschein zusammen, so Talaei.
Immer mehr Studenten leben in Single-Haushalten
Experten sehen einen Grund dafür in den Engpässen der iranischen Studentenwohnheime. Sie werfen den Verantwortlichen vor, nichts gegen die Wohnungsnot unter den Studierenden unternommen zu haben. Der Psychologieprofessor Ali Esmaeili von der Teheraner Universität „Alameh Tabatabei“ sieht auch finanzielle Gründe hinter der Entwicklung: Da die Universitäten für ihre Unterkünfte viel Geld verlangten, sei es „kein Wunder, dass ein Student bei gleichen Kosten eine private Mietwohnung bevorzugt“, hatte Esmaeili im September 2012 in einem Interview mit der iranischen Zeitung „Resalat“ gesagt.
Mehr Frauen in Einzelhaushalten
Im Iran wird zwischen geschiedenen und ledigen Alleinlebenden unterschieden. Der Begriff „Single-Haushalt“ wird offiziell nur für Ledige gebraucht, die sich bewusst für das Alleinleben entschieden haben.
Laut aktueller Statistiken lebten 2012 etwa 7 Prozent der iranischen Bevölkerung in Einzelhaushalten. Das seien zwei Prozent mehr als fünf Jahre zuvor, schreibe die iranische Zeitung „Khorasan“ Ende Dezember 2012. Neu ist, dass sich immer mehr Frauen für das Alleinleben entscheiden. 30 Prozent der Single-Frauen vor allem in Großstädten wie Teheran, Isfahan oder Mashahad leben nicht der Tradition gemäß bei ihren Eltern, sondern allein. Beobachter vermuten, dass dahinter auch das Streben von immer mehr jungen Menschen nach einer modernen Lebensart steht.
Falsche Familienpolitik
Teherans Stadtratsmitarbeiter Morteza Talaei sieht bei der neuen Entwicklung einen Zusammenhang zur steigenden Scheidungsrate im Iran und glaubt sogar, dass sich alleinstehende Frauen ihr zufolge prostituierten. Der Stadtrat müsse sich deshalb für eine „bessere Familienpolitik, die versucht, die Paare zusammenzuhalten“, einsetzen, so Talaei. Laut offiziellen Angaben lässt sich jedes dritte Paar im Iran scheiden. Die meisten sind nicht länger als zwei Jahre verheiratet. Allein in Teheran ließen sich in den vergangenen acht Monaten 22.128 Paare scheiden. Das sind rund 6 Prozent mehr als im Vorjahr.
„Staat darf sich nicht in die Privatsphäre einmischen“
Ein Grund dafür, dass Verantwortliche der islamischen Republik Iran das uneheliche Zusammenleben als Gefahr betrachten, besteht darin, dass diese Lebensart ihrer Ansicht nach aus der westlichen Kultur stammt. So behauptete etwa der stellvertretende iranische Arbeitsminister Madjid Doustali kürzlich, die steigende Zahl von Single-Haushalten im Iran sollte als „Drohmittel des Feindes“ gegenüber islamischen Werten betrachtet werden.
Da die Machthaber in den Single-Haushalten die Gefahr sehen, uneheliche Beziehungen zu führen, versuchen die Verantwortlichen immer wieder, diese zu kontrollieren. Vor drei Jahren versprach die Teheraner Polizei im Rahmen ihres Projekts „Gesellschaftliche Ordnung“ gar die massive Bekämpfung von Single-Haushalten. Nur wenige Parlamentarier äußerten sich damals kritisch, etwa der Abgeordnete Madjid Nassirpour. Er sagte: “Singleleben ist das Recht jedes einzelnen Bürgers. Weder das iranische Zivilrecht noch die religiösen Vorschriften erlauben dem Staat, sich so weit in die Privatsphäre der Menschen einzumischen.“
KH