Weder Religion noch Opium – Crystal ist die neue Droge des Volkes
Neben den meisten Hinrichtungen hält die Islamische Republik einen weiteren traurigen Rekord: Drogenmissbrauch. Waren es bis jetzt Opium, Heroin und Hasch, sind es inzwischen Designerdrogen, die sich rapid unter den Jugendlichen verbreiten – mit fatalen Folgen.
Das Video dauert nur zehn Sekunden: Ein etwa 50-jähriger Mann hockt neben einem Pick Up, er hält eine Maschinenpistole im Anschlag. Fünf Meter weiter steht ein etwa 10 Jahre altes Mädchen, es wirkt fröhlich. Plötzlich fallen Schüsse, entsetzliches Geschrei ist zu hören, die Bilder wackeln. Ende der Szene. Das Video zeigt das Lebensende von drei jungen Mädchen, 10, 12 und 19 Jahre alt, getötet von ihrem eigenen Vater. Die grausame Szene hat die älteste Tochter mit ihrem Handy buchstäblich in den letzten Sekunden ihres und ihrer beiden Schwester Leben aufgenommen.
Das Verbrechen geschah Mitte September im Dorf Tachtgah nahe der Stadt Kermanschah im Westen Irans. Doch erst seit zwei Wochen, als das Zehn-Sekunden-Video auf YouTube auftauchte, kommen die Hintergründe des dreifachen Mordes in den iranischen Zeitungen zur Sprache: Der Mörder ist ein inhaftierter Drogenabhängiger. Weil er behauptete, an der Hochzeit seiner ältesten Tochter teilnehmen zu wollen, bekam er einen befristeten Freigang, obwohl er nach Angaben der Behörden wegen seiner Sucht an Verfolgungswahn leidet. Den Mord an seinen Töchtern hatte der Mann schon im Gefängnis geplant: Er wollte sie töten, weil er glaubte, sie könnten auf die schiefe Bahn geraten. Nach Angaben der Behörden hatte der Mann sich auch im Gefängnis seine Drogen beschaffen können.
Neuer Trend im Drogenkonsum
Die Familientragödie ist eine Momentaufnahme der Verhältnisse in iranischen Gefängnissen und der neuen Dimension von Drogenmissbrauch im Land. Der flüchtige Mörder ist, wie die Webseite Tabnak herausfand, seit Jahren crystalsüchtig. Dieses Methamphematin, persisch Schischeh, ist preiswert und leicht herstellbar. Die neue Droge ist dabei, die alten teueren Drogen wie Opium, Heroin, Kokain und sogar Haschisch zu ersetzen – eine neue Droge für das einfache Volk.
„Crystal hat längst Haschisch und Opiate verdrängt“, sagt auch Parvis Mazaheri, der Chef des iranischen Psychologenverbandes. Die Droge sei leicht verfügbar und versetze den Konsumenten schnell in Euphorie. Auf das Abklingen der Wirkung folgten allerdings Depression und Verfolgungswahn. Viele Jugendliche glaubten, Crystal mache nicht süchtig, so Mazaheri: „Deshalb breitet sich die Droge viel schneller aus, als wir gedacht haben. Crystal ist fast überall auf der Straße, in den Parks und sogar in manchen Geschäften zu haben“, sagt der Psychologe. Viele wüssten nicht, welche Gefahren von der neuen Droge ausgehen. Und die Behörden sind offenbar machtlos.
Hamid Reza Hosseinabadi, der ehemalige Chef der Antidrogenbehörde, gesteht in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Fars diese Hilflosigkeit offen: „Wir haben weltweit die meisten Crystalkonsumenten und wir sind auch zum größten Produzenten und Exporteur dieser Droge vor allem in Richtung Asien geworden“, so Hosseinabadi. Derzeit säßen Dutzende Iraner in Malaysia, Thailand und Indonesien wegen Schmuggels von Crystal in den dortigen Gefängnissen. Im Iran selbst droht bereits für den Besitz von 20 Gramm Crystal die Todesstrafe.
Der Weltrekord, die Gefängnisse, die HIV-Infizierten
Die traditionelle Droge im Iran ist seit Jahrhunderten das Opium, das immer noch vor allem unter älteren Menschen weit verbreitet ist. Umfassende Zahlen über Drogensüchtige und Drogenkonsum gibt es nicht -jedenfalls nicht für die Öffentlichkeit. Die letzten Zahlen des Gesundheitsministeriums stammen aus dem Jahr 2007. Ihnen zufolge gab es damals in der Islamischen Republik 3,7 Millionen Drogensüchtige, davon 2,5 Millionen Schwerstabhängige. Hinzu kamen etwa 150.000 gelegentliche Konsumenten. Damit hat sich die Zahl der Drogenabhängigen innerhalb von zehn Jahren verdreifacht: Denn 1997 ging man noch von 1,2 Millionen Drogenkonsumenten aus. Gemessen an der Bevölkerungszahl gibt es demnach im Iran weltweit die meisten Drogenabhängigen – neben der hohen Zahl von Hinrichtungen ein weiterer trauriger Weltrekord der Islamischen Republik.
Laut dem UN International Drug Control Programme (UNDCP) ist die Situation besonders in den iranischen Gefängnissen besorgniserregend. Drogendelinquenten stellen etwa 70 Prozent der Gefangenen. In den Haftanstalten ist der Drogenkonsum stark verbreitet und das gemeinsame Benutzen einer Spritze ist die Regel. Der Bericht schätzt, dass etwa 63 Prozent der Drogenkonsumenten in den iranischen Gefängnissen HIV-infiziert sind. Experten schätzen, dass sich die Gesamtzahl der Infizierten auf 166.000 beläuft. Wie viele es im Iran tatsächlich gibt, ist offiziell nicht bekannt. Denn auch die HIV-Statistiken sind als so genannte „sensible Zahlen“ eine Art Staatsgeheimnis.
Fataler Irrtum: Designer-Drogen seien harmlos
Um den alten verruchten und zudem teuren Drogen zu entkommen, nehmen viele Jugendlichen die neuen, modischen und angeblich harmlosen Designerdrogen. Wie schnell dieser Trend voranschreitet, zeigt eine Studie der Universität Islamschahr in Teheran. Masud Hadji Rassuli, Autor der Untersuchung, sagt: „Von 1.108 Drogensüchtigen, die wir langfristig im Süden Teherans beobachtet haben, konsumierten 334 Crack und 327 Crystal.“
Dass sich diese Designerdrogen massiv ausbreiteten, sei Folge eines „fatalen Irrtums“, so der Psychologe Mazaheri: „Viele glauben, Crystal und Crack machten nicht süchtig.“ Gesellschaftlich sei diese Entwicklung für den Iran sehr gefährlich, denn im Gegensatz zu den Opiaten, die „lethargisch machen und ruhigstellen“, so Mazaheri, putschten Crystal und andere Designerdrogen auf: „Die Konsumenten werden aggressiv, leiden oft unter Verfolgungswahn und geraten außer Kontrolle.“
Moderne Droge, mittelalterliche Strafe
Der kaltblütige Mord an den drei Mädchen in Kermanschah ist nicht das einzige Verbrechen, bei dem Crystal im Spiel gewesen ist. Unter dem Titel „Countdown für Vergeltung des Säureopfers“ berichtete die Zeitung Hamschahri am Donnerstag vergangener Woche: „Das Säureopfer, das im Dorf Ali Abad in der Nähe von Waramin von einem Crystalsüchtigen geblendet wurde, darf bald Vergeltung üben und den Täter selbst mit Säure blenden. Der Gerichtshof hat das Urteil in letzter Instanz bestätigt und es zur Exekution an das zuständige Gericht weitergeleitet“. Bei dem Täter handelt es sich um einen 24-Jährigen, der 500.000 Tuman (etwa 300 Euro) für die Ausführung des Säureanschlags erhalten hatte. Alle juristischen Instanzen haben Beschaffungskriminalität als Tatmotiv festgestellt. Der Auftraggeber wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Das erblindete Opfer besteht auf Vergeltung.