Unterschätztes Problem: Gewalt gegen Kinder im Iran

Jährlich werden Tausende iranische Kinder Opfer verschiedener Formen von Gewalt. Besonders seitens der eigenen Eltern erleben das viele. Und rechtlich sind Kinder und Jugendliche im Iran kaum dagegen geschützt.
Die schockierende Meldung über einen Teheraner Grundschullehrer, der mindestens sechs seiner Schüler sexuell missbraucht haben soll, hat im Iran erst kürzlich hohe Wellen geschlagen – und eine Diskussion zum Thema Gewalt gegen Kinder entfacht. Es sei bedauerlich, dass sich stets erst solche Tragödien ereignen müssten, damit eine Gesellschaft anfange, über Missstände offen zu reden, sagt die Londoner Familientherapeutin Shahrzad Pourabdollah im Gespräch mit TFI: „Normalerweise redet keiner über die psychische, physische und sexuelle Gewalt, die es in der iranischen Gesellschaft täglich gegen Kinder gibt.“ Vor allem die Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt sei grundsätzlich ein Tabu. Und über andere Formen von Gewalt werde nicht geredet, weil viele sich gar nicht bewusst seien, was als Gewalt einzustufen sei: „Maßnahmen wie Kinder zu schlagen oder ihnen mit Schlägen zu drohen, sie einzusperren oder ihnen Nahrung vorzuenthalten, werden von der Mehrzahl der IranerInnen als legitime Erziehungsmaßnahmen gesehen“, so die Therapeutin. Viele der psychischen Probleme der IranerInnen seien auf solche in der Kindheit erlebte Gewalt zurückzuführen, so Pourabdollah.
Hohe Dunkelziffer

Screen shot von einem Video, in dem ein Lehrer zwei Schülter brutal quält. Das Video macht seit Wochen im Internet die Runde.
Screen shot von einem Video, in dem ein Lehrer zwei Schülter brutal quält. Das Video macht seit Wochen im Internet die Runde.

Es gibt aber Hilfe für die Jüngsten in der iranischen Gesellschaft: Seit dem Jahr 2000 versucht das Beratungszentrum Sedaye Yara (Helfende Stimme) mit ausgebildetem Fachpersonal über eine Art Notfall-Hotline Kinder und Jugendliche, aber auch ratsuchende Eltern zu unterstützen. 2.488 Anrufe nahmen die MitarbeiterInnen im vergangenen Jahr entgegen. 55 Prozent der AnruferInnen waren nach Angaben des Beratungszentrums Opfer von psychischer Gewalt, während 45 Prozent physisch oder sexuell misshandelt worden waren. Sedaye Yara ist seit 2006 Mitglied der Organisation International Child Helping, die in 150 Länder arbeitet und bemüht ist, die Telefonseelsorge für Kinder und Jugendliche auszubauen und weiterzuentwickeln.
Doch nur ein Bruchteil der Opfer greift tatsächlich zum Hörer. Wie hoch die Zahl der Kinder und Jugendlichen ist, die im Iran insgesamt Opfer von Gewalt werden, ist schwer zu ermitteln. 2011 wurden laut Zahlen des iranischen Gesundheitsministeriums 8.618 Fälle von Gewalt gegen Kinder registriert. De facto dürfte die Zahl weit höher liegen, weil dem Gesundheitsministerium nur die Fälle bekannt werden, die von der Polizei oder Krankenhäusern aufgenommen worden sind.
Missachtung von Kinderrechten

Screen shot von einem im Internet veröffentlichen und vielgesehenen Video, in dem eine iranische Kindergärtnerin ein Kind brutal quält!
Screen shot von einem im Internet veröffentlichen und vielgesehenen Video, in dem eine iranische Kindergärtnerin ein Kind brutal quält!

Zwar würden Kinder und Jugendliche auch durch ErzieherInnen und LehrerInnen in Kindergärten und Schulen Opfer von Gewalt. Am häufigsten erführen sie diese jedoch in den eigenen vier Wänden, sagt die Teheraner Sozialarbeiterin Samira Saadat im Gespräch mit TFI: „Gewalt ausgesetzt zu sein, ist für iranische Kinder und Jugendliche leider etwas sehr Alltägliches.“ Gesetzlichen Schutz genießen Minderjährige kaum, obwohl der Iran seit 1994 Unterzeichner der UN-Kinderrechtskonvention ist, die Kindern unter anderem das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung einräumt. „Die Gesetze des Iran kollidieren aber mit den internationalen Rechten“, erklärt Saadat. In der Islamischen Republik könnten Väter über ihre Kinder mehr oder weniger frei verfügen: „Wenn sie ihren Kindern Leid zufügen, wird von Seiten des Gesetzes kaum etwas unternommen. Selbst wenn er das eigene Kind tötet, muss ein Vater lediglich mit einer zehnjährigen Gefängnisstrafe rechnen, während eine Mutter, die ihr Kind tötet, hingerichtet wird.“
Ursachen: Sucht und Frust
Besonders oft gebe es Gewalt in Familien, in denen mindestens ein Elternteil alkohol- oder drogenabhängig sei, sagt die Familientherapeutin Pourabdollah: „Zwar gibt es keine genauen Statistiken darüber, aber erfahrungsgemäß kommt es in solchen Familien auch häufiger zu sexuellen Übergriffen gegen Kinder und Jugendliche.“ Pourabdollah befürchtet sogar, dass die Gewalt gegen Kinder im Iran noch zunehmen wird. Denn die Konservativen planen, die Anzahl der Geburten im Iran zu steigern. Das Resultat dieser Politik werde sein, „dass viele Ehepaare wider Willen zu Eltern werden“, so die Therapeutin: „Wenn aber Frauen und Männer nicht dazu bereit sind, Kinder groß zu ziehen, können sie auch keine guten Eltern sein.“ Auch die auf die Eltern zukommenden finanziellen Belastungen, die ein Kind mitbringe, könnten sie nervlich belasten, so dass Aggressionen entstünden, die sich an dem Kind entladen könnten.
Samira Saadat ist dagegen der Hoffnung, dass Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Zukunft abnehmen werde: „Durch das Internet haben Millionen von IranerInnen heute die Möglichkeit, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die in einer geschlossenen Gesellschaft sonst nur selten aufgearbeitet werden.“ Durch die Offenheit der Debatten, die online geführt würden, könnten viele IranerInnen ihr bisheriges Verhalten reflektieren und hinterfragen.
JASHAR ERFANIAN