Steigende Selbstmordrate
Immer mehr IranerInnen nehmen sich das Leben. Die Gründe seien vor allem gesellschaftliche, sagen ExpertInnen. Ändere sich der Umgang mit dem Thema nicht, werde die Zahl weiter steigen.
„Es ist erschreckend, wie vielen PatientInnen wir in den vergangenen Wochen und Monaten das Leben retten mussten, die versucht haben, sich mit Medikamenten selbst zu töten“, sagt Narges Shakeri gegenüber TFI. Die 43-jährige Krankenpflegerin arbeitet seit vielen Jahren in der Teheraner Loghman-Klinik, in die Menschen eingeliefert werden, die eine Überdosis Drogen oder Medikamente konsumiert haben. Die genaue Zahl dieser PatientInnen dürfe sie nicht nennen. Für die Krankenschwester steht jedoch fest, dass die Selbstmordrate auf nationaler Ebene weit höher liegen müsse als offizielle Statistiken besagen.
„Besorgniserregende“ Zahlen
Laut dem Leiter des Teheraner Instituts für Rechtsmedizin, Ahmad Shojaee, ist die Zahl der Suizide im Iran im vergangenen Jahr gegenüber dem Vorjahr erneut angestiegen. Nach offiziellen Angaben haben sich im iranischen Kalenderjahr 1392 (21. März 2013 bis 21. März 2014) 4.055 IranerInnen das Leben genommen. Im Jahr zuvor hat es 3.640 Selbstmorde gegeben – laut Shojaee „besorgniserregende“ Zahlen. Die jedoch lange nicht die Realität widerspiegelten: „Viele Hinterbliebene flehen die KlinikmitarbeiterInnen regelrecht an, über die Todesursache der Verstorbenen Stillschweigen zu bewahren. Sie schämen sich, weil im Islam Selbstmord eine schwere Sünde ist und man um den Familienruf fürchtet“, so die Krankenfplegerin Shakeri.
Hohe Selbstmordrate bei jungen Menschen
Besonders hoch ist die Selbstmordrate bei den 18- bis 24-Jährigen. Knapp 28 Prozent aller Suizidopfer fallen in diese Altersgruppe. Dies hänge mit dem Mangel an Perspektiven zusammen, glaubt der Teheraner Sozialwissenschaftler Abbas Mohammadi: „Junge Menschen haben Träume und Ambitionen. Doch das Leben im Iran bietet nicht jedem die Möglichkeit, diese zu verwirklichen. Manche zerbrechen daran und sehen keinen anderen Ausweg als den Freitod“, so Mohammadi im Gespräch mit TFI. Andere hätten Schwierigkeiten, mit dem akademischen Leistungsdruck umzugehen, der sowohl von familiärer wie auch von gesellschaftlicher Seite auf ihnen laste: „Wenn junge Erwachsene den Erwartungen, die an sie gestellt werden, nicht gerecht werden, sind manchmal Verzweiflung und Scham so groß, dass sie Suizid begehen.“
Finanzielle Not als Selbstmordgrund
Bei den über 40-Jährigen seien es dagegen überwiegend wirtschaftliche Nöte, die zum Selbstmord führten, sagt der Sozialwissenschaftler. In den vergangenen Jahren hätten viele Menschen unter der schlechten ökonomischen Situation im Iran sehr gelitten: „Die Wirtschaftspolitik der Ahmadinedschad-Administration und die Sanktionen des Westens hatten verheerende Folgen für das Leben vieler IranerInnen. Nicht wenige haben ihren Job verloren.“
Die Folgen von Arbeitslosigkeit seien nicht nur finanzielle Probleme, sagt Mohammadi: „Viele Menschen definieren sich über ihre Arbeit. Geht diese verloren, fühlen sie sich nutzlos und von der Gesellschaft abgekapselt.“ Dies könne die Psyche so sehr schädigen, dass den Betroffenen nur noch ein Suizid als Ausweg möglich scheint, glaubt Mohammadi. Es seien vor allem Männer, die diesen Weg wählten.
Viele Selbstmordversuche unter Frauen
Die Statistiken belegen, dass es mehr männliche als weibliche Suizidopfer gibt. Doch übersteigt die Zahl der Frauen, die einen Selbstmordversuch überleben, die der Männer: „Viele Frauen greifen zu Medikamenten, um sich zu töten. Wenn sie entdeckt und zu uns in die Klinik gebracht werden, können wir oft noch ihr Leben retten“, erklärt das Krankenpflegerin Shakeri.
„Viele iranische Frauen, die sich das Leben nehmen möchten, tun dies aus familiären Gründen. Oft spielt dabei die Unterdrückung in der Ehe eine wichtige Rolle, manchmal auch die allgemeine Unterdrückung der Frau in der von Männern dominierten Gesellschaft des Iran“, glaubt Abbas Mohammadi.
Fehlende Sensibilität für das Thema
Dem Teheraner Sozialwissenschaftler zufolge muss weiter mit steigenden Selbstmordzahlen gerechnet werden, wenn nicht aktiv Abhilfe geschaffen wird: „Die Gesellschaft muss beginnen, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen“, sagt Mohammadi. Politik und Medien müssten dabei „eine Vorreiterrolle spielen und das Thema publik machen“. Zwar würden seit einigen Jahren die Selbstmordstatistiken veröffentlicht, doch reiche das allein nicht aus: „Wichtiger ist es, das Thema zu enttabuisieren. Nur wenn die Menschen selbst anfangen, darüber zu reden, kann in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür entstehen. Und nur dann wird es auch mehr Beratungsstellen und Hilfe für Gefährdete geben“, glaubt der Sozialwissenschaftler.
JASHAR ERFANIAN