Religion verliert immer mehr Anhänger

Sie sind im Iran immer häufiger zu hören: die Klagen Geistlicher über die zunehmende „Sittenlosigkeit“ im Land. In den vergangenen Monaten beschwerten sich iranische Kleriker über leere Moscheen und das Desinteresse der Jugend an der Religion. Einige machen die Regierung dafür verantwortlich. Andere meinen, der Westen verderbe die Jugend.

„Der moralische Verfall dominiert unsere Universitäten.“ Das sagt Mohsen Gharaati, einer der bekanntesten Koran-Kenner und Prediger des Iran. Bei einer Rede vor Studenten und Universitätsdozenten am vergangenen Mittwoch hob Gharaati die Rolle der Universitäten beim von immer mehr Geistlichen diagnostizierten Verfall der Sitten im Iran hervor. Grund dieser „Verderbtheit“ sei die „Überbewertung der Wissenschaften und die Verkennung der wissenschaftlichen Bedeutung des Koran“, so der Glaubensexperte. Dem Nachrichtenportal RESA zufolge beklagte sich Mohsen Gharaati etwa über einen Universitätsprofessor, der Studenten empfohlen habe, Koran-Zitate in Fußnoten unterzubringen, um die wissenschaftliche Qualität ihrer Hausarbeiten aufzuwerten.
Störfaktor „Geschminkte Studentinnen“
Gharaati warnte auch vor „geschminkten Studentinnen“, die ihre Kommilitonen dabei behinderten sich zu konzentrieren: Das sei eine „Rechtsverletzung“, so der Prediger, aber: „Die Charakterschwäche der Studierenden  geht soweit, dass sie religiösen Autoritäten keine Folge mehr leisten.“
Wachsender Atheismus

"Imam Moschee" in Teheran
"Imam Moschee" in Teheran

Über zunehmende atheistische Äußerungen von IranerInnen in sozialen Netzwerken berichtete auch das iranische Nachrichtenportal BAZTAB EMRUZ im Januar. Immer mehr Frauen zeigten sich zudem auf Bildern in sozialen Netzwerken unverschleiert, so das Portal.
Dem Bericht zufolge sind Klerus und Regierung mit schuld an der Verbreitung dieser Trends. Indem sie die Proteste gegen die Wiederwahl Ahmadinedschads 2009 im Namen der Religion brutal niederschlugen, hätten sie sich unglaubwürdig gemacht. Die brutale Verfolgung der Protestierenden im Namen des Islams habe einen „atheistischen und antireligiösen Tsunami“ bei den Jugendlichen ausgelöst. Gegen die Wahlmanipulationen 2009 gingen Hunderttausende Menschen auf die Straßen, viele kamen ins Gefängnis und einige bezahlten die Proteste mit ihrem Leben.
Für Soziologen ist die Haltung junger Menschen gegen die Herrschenden leicht zu erklären. Da die Menschen im Iran ihre Identität im Alltag gezwungenermaßen verschleiern, ja sogar verneinen müssten, zeigten sie ihr wahres Ich dort, wo es geht, so der im Schweden lebende Iran-Experte Mehrdad Darvishpour. Für das Nachrichtenportal BAZTAB EMRUZ sind „Instrumentalisierung und Missbrauch der Religion im politischen Alltag des Iran“ Ursache für die „Abwendung der Menschen von Religion und Gott“.
FP