„Giftbecher auf Raten“ – Gottesstaat vor historischer Entscheidung
Der entscheidende Schritt in den Atomgesprächen ist vollzogen. Der Iran legt einen Dreistufenplan vor und drängt auf eine schnelle Lösung. Doch die Mächtigen im Land haben Mühe, dem Volk die schmerzlichen Kompromisse nahezubringen.
„Das Gerede über eine Meinungsumfrage ist konterrevolutionär“, sagte Ayatollah Ahmad Alamolhoda, Freitagsprediger der Stadt Maschad. Unter den bekannten Prediger des Iran ist Alamolhoda mit Sicherheit der Meistzitierte, denn er lässt keine Gelegenheit dazu aus, sich zu jedem innen- und außenpolitischen Thema zu äußern. Dabei ist der Geistliche immer offen und in seinen Zuspitzungen oft auch rüde und beleidigend.
Mit „konterrevolutionär“ meinte der Ayatollah das Vorhaben des neuen Präsidenten Hassan Rouhani. Der hatte nach seinem spektakulären Telefongespräch mit Barack Obama angekündigt, eine Meinungsumfrage zu den Beziehungen zu Amerika in Auftrag zu geben. Rouhani wähnte sich momentan jedoch zu sicher und stark, als dass er sich von dem Freitagsprediger aus der fernen Stadt Maschhad beeinflussen ließe. Also ließ der Präsident die Umfrage durchführen. Das Ergebnis ist seit vergangenem Mittwoch bekannt: 80 Prozent der befragten Iranerinnen und Iraner sind für eine Normalisierung der Beziehung zu den USA, meldeten Zeitungen und Webseiten. Die Einzelheiten dieser Umfrage sind nicht nur aufsehenerregend, sondern auch aufschlussreich. Etwa in diesem Punkt: Jeder zweite, der Beziehungen zwischen dem Iran und den USA ablehnt, ist dafür, die Parole „Nieder mit den USA“ aus der Öffentlichkeit zu verbannen.
„Das ungeduldige Volk verfolgt alles“
Es ist erstaunlich, wie interessiert, akribisch und erwartungsvoll die Mehrheit der Iraner die außenpolitischen Aktivitäten der neuen Regierung verfolgt.
Der iranische Politologe Sadegh Zibakalam meint, kein außenpolitisches Thema der letzten zweihundert Jahre habe derart die Aufmerksamkeit der Iraner geweckt wie die Verhandlungen über das Atomprogramm und die Beziehung zu den USA. “Selbst die Entscheidung über das Ende des achtjährigen Krieges mit dem Irak fiel in kleinem Kreis und kam praktisch über Nacht“, so Zibakalam. Die Öffentlichkeit sei aber heute dank persischer Satellitensender aus dem Ausland bestens informiert, sagt der Politikwissenschaftler: „Kein Wunder, denn das alltägliche Leben der Menschen, ja das Schicksal des Landes hängt tatsächlich von diesen Verhandlungen und von der Beziehung zu Washington ab.“
Lässt sich bis zum Erfolg alles geheim halten?
Doch die gute Informiertheit der Bevölkerung hat auch ihre Schattenseiten. Denn sie fördert die Ungeduld des Volkes und bringt so die Regierung unter Druck: Das Volk will mehr Einzelheiten erfahren, will wissen, ob und wann mit Ergebnissen zu rechnen und wann schließlich das Ende der Sanktionen und der Isolation zu erwarten ist.
„Geheimhaltung ist aber das Rezept zu jedem Erfolg“, sagte Abbas Araghchi, Vizeaußenminister und iranischer Verhandlungsführer bei den Atomgesprächen, nach seiner Rückkehr aus Genf. Unter den sechs Vizeaußenministern des Iran gehört der erfahrene Diplomat zu den so genannten „Prinziptreuen“. Er steht dem mächtigsten Mann des Landes, Ayatollah Ali Khamenei, sehr nah. In Genf, wo die Delegierten sich am siebten November wieder treffen, sitzt mit Araghchi praktisch Khamenei selbst am Verhandlungstisch.
Über das Ziel müsse sich der Iran mit dem Westen einigen, „die Schritte dazu sind Verhandlungssache und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt“, sagt Araghchi. Ob seine Geheimnisse lange geheim bleiben, bezweifelt allerdings selbst die Nachrichtenagentur FARS, die dem iranischen Geheimdienst nahe steht. Die Massenmedien des Feindes würden die Geheimhaltungsstrategie der Regierung konterkarieren, so die Agentur, die in der öffentlichen Debatte als Sprachrohr der Hardliner fungiert.
Der mächtigste Mann wartet ab
Neben FARS spielt auch die Tageszeitung Kayhan als Organ der Scharfmacher eine wichtige Rolle, zumal ihr Chefredakteur als engster Vertrauter von Khamenei gilt. Doch der Revolutionsführer selbst hält sich mit Kritik ebenso zurück wie mit übertriebener Unterstützung. Er hat sich bis jetzt nur einmal zu dem neuen außenpolitischen Kurs des Landes geäußert. Zwei Tage nach der Rückkehr Rouhanis aus New York sagte er vor den versammelten Offizieren der Revolutionsgarden: „Die ehrliche Mühe der geachteten Regierung müssen wir loben“, und ergänzte nach einer Kunstpause: „Manche Verhaltensweisen bei der Reise nach New York waren allerdings unangebracht.“
Jeder wusste, was der mächtigste Mann damit meinte: Das Telefongespräch Rouhanis mit Barack Obama und das lange Vieraugengespräch zwischen den Außenministern des Irans und der USA.
Wie der Revolutionsführer zu der außenpolitischen Wende tatsächlich steht, ist noch offen. In den kommenden Wochen, wenn die Verhandlungen Schmerzgrenzen erreichen, werden wir wahrscheinlich mehr erfahren. Denn die Zugeständnisse, die der Iran machen werden muss, sind nach bisheriger Lesart der Islamischen Republik tatsächlich Tabubrüche ersten Ranges – nimmt man Khamenei beim Wort, sind sie sogar „Verrat“.
Nur einmal in ihrer 34-jährigen Geschichte stand die Islamische Republik vor einer solchen historischen Wende, bei der sie einen lang gepflegten Feind verlor. Einst trank der Republikgründer Ayatollah Ruhollah Khomeini nach eigenem Bekunden „den Giftbecher“, als er die Resolution zur Beendigung des Krieges mit dem Irak akzeptieren musste. „Giftbecher auf Raten“ ist daher dieser Tage ein gängiger Ausdruck vieler iranischer Satiriker.