Gewalt auf den Straßen Irans

Die Anzahl der Prügeleien auf Irans Straßen hat in den vergangenen Jahren spürbar zugenommen. Warum münden kleine Konflikte immer öfter in blutige Auseinandersetzungen? Welche Rolle spielt dabei das iranische Regime?

Allein in den vergangenen zehn Monaten hätten mehr als 90.000 Menschen, die bei Prügeleien auf offener Straße verletzt wurden, die Zentralen für Gerichtsmedizin der iranischen Hauptstadt Teheran konsultiert, sagte der Leiter der Teheraner Organisation für Forensik, Bashir Nazparwar, Anfang März in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Fars. Dies sei ein Anstieg von 1,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Über 60.000 der involvierten Personen seien männlich gewesen, etwa 31.000 weiblich, so Nazparwar. Und das sind nur die amtlich bekannten Zahlen zu Straßenprügeleien im Großraum Teheran. Die Dunkelziffer schätzen Experten weit höher ein. Grund dafür ist unter anderem, dass es oft zu keiner Anzeige kommt: etwa, wenn Streitigkeiten durch Passanten geschlichtet werden.
Die Anzahl der Gewalt auf iranischen Straßen – und der Opfer – hat enorm zugenommen. Im Sommer 2014 schätzte die Teheraner Organisation für Gerichtsmedizin die Zahl der Todesfälle durch Messerstechereien auf den Straßen auf durchschnittlich drei pro Tag – im Vergleich zum Vohrjahr ein Anstieg um mehr als 26 Prozent.
Auch Prominente werden in solchen Taten verwickelt. Ruhollah Dadashi, Gewinner des Wettbewerbs „Der stärkste Mann des Iran“ erlag vor drei Jahren seinen Stichverletzungen. Sein Mörder, der bei der Tat noch minderjährig war, wurde öffentlich erhängt. Der Grund der Schlägerei wurde bisher nicht aufgeklärt.
Mahmoud Miran, der iranische Judokämpfer und WM-Bronzegewinner, wurde im gleichen Jahr mit einer Axt attackiert. Er sagte, dass sein Gespräch mit dem Besitzer eines Lebensmittelgeschäftes in einen Streit ausgeartet sei. Der Kampfsportler wurde am Arm verletzt.
Das Nervenkostüm der Menschen im Iran sei dünn geworden, so die Erklärung des iranischen Ex-Polizeichefs Esamil Ahmadi Moghadam hinzu, als er 2012 über die besorgniserregende Zunahme von Straßenschlägereien und Morden berichtete. „Inflation, Arbeitslosigkeit und kulturelle Probleme“ seien der Grund. Moghadam forderte das Staatsfernsehen auf, die Gesellschaft „durch das Ausstrahlen lustiger Filme und Sendungen“ zu entspannen.
„Kein kollektives Bewusstsein verurteilt die Gewalt“

Ein Grund für das Gewaltproblem im Iran ist das „fehlende kollektive Bewusstsein für Unrecht in Bezug auf Gewalt“!
Ein Grund für das Gewaltproblem im Iran ist das „fehlende kollektive Bewusstsein für Unrecht in Bezug auf Gewalt“!

Neben persönlichen und psychischen Belastungen wie Arbeitslosigkeit und dem Gefühl, gesellschaftlich benachteiligt zu sein, sei einer der Gründe für das Gewaltproblem im Iran auch das „fehlende kollektive Bewusstsein für Unrecht in Bezug auf Gewalt“, sagt Saeed Peyvandi, iranischer Soziologe und Dozent an der Pariser Universität. Gewalt werde weder zuhause noch in der Schule thematisiert. Hinzu komme, dass Gewalt in Familien und Schulen keine Seltenheit sei. Immer wieder berichten iranische Medien über Ehrenmorde, die Unterdrückung von Frauen und häusliche Gewalt. Weder Regierung oder islamische Rechtsgelehrte noch Medien oder Universitäten leisten Aufklärungs- und Präventionsarbeit.
Das staatliche Fernsehen, einst wichtigstes Medium des Landes, hat zudem seine Glaubwürdigkeit verloren. Das Vertrauen der Menschen in die staatlichen Sendungen hat vor allem unter der einseitigen Berichterstattung nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2009 gelitten. 60 Prozent der Bevölkerung schauten mittlerweile lieber persischsprachige Sendungen aus dem Ausland über Satellit, sagt selbst der Kulturbeauftragte der iranischen Revolutionsgarde, Mohammad Hossein Nedjat. Über ausreichend Einfluss für entsprechende Prävention verfügt das staatliche Fernsehen damit längst nicht mehr.
Und Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die im Bereich des sozialen Friedens aktiv sind, wurden bisher von den Regierenden nicht geduldet.
Staatliche Rechtfertigung der Gewalt
Öffentliche staatliche Gewaltausübungen wie Hinrichtungen und Auspeitschungen, die von einem breiten Publikum ngeschaut und per Handy gefilmt werden, tun ihr Übriges dazu. „Diese äußerst brutalen Handlungen führen zum Verlust der Hemmschwelle sowie jeglichen Unrechtbewusstseins und jeder Empathie“, so Saeed Peyvandi.
Zuschauer der Hinrichtung in der iranischen Stadt Sabzevar
Zuschauer der Hinrichtung in der iranischen Stadt Sabzevar

Über Jahre hinweg hätten die Menschen ihren Glauben an die iranische Regierung und den Justizapparat verloren, sagt Peyvandi. Korruptionsaffären, an denen politisch Verantwortliche beteiligt seien und die Tatsache, dass die Justiz im Dienste der Herrschenden stehe und somit „Doppelmoral“ betreibe, trügen enorm zu diesem Misstrauen bei, so der Soziologe: „Das führt unter anderem dazu, dass die Menschen in Konfliktsituationen Selbstjustiz ausüben.“
Keine zeitgemäßen Mittel
In einigen Bereichen hat die iranische Gesellschaft in relativ kurzer Zeit viele ihrer traditionellen Strukturen hinter sich gelassen. Alte Ehrenkodexe, die früher dafür sorgten, zwischenmenschliche Konflikte gewaltfrei zu bewältigen, gibt es kaum noch. Dieser Wegfall ist im städtischen Alltag bislang durch nichts Funktionierendes ersetzt worden. Dies, meint Peyvandi, sei ein weiterer Grund, dass Konflikte öfter in Gewalt münden.
Um die Gewalt auf iranischen Straßen zu bekämpfen, müssten die Ursachen innerhalb der Familien, auf Schulhöfen und in der Gesellschaft tiefgreifender bekämpft und gleichzeitig wirksame Sensibilisierungsmaßnahmen ergriffen werden, meinen Experten.
Immerhin hat im Februar die landesweit erste „Zentrale für Prävention und Kontrolle der Gewalt“ in Teheran seine Arbeit aufgenommen. Diese Zentrale bietet Hilfesuchenden kostenlose Beratung zur Bekämpfung ihrer Aggression an.
IMAN ASLANI