Die Lage der Werktätigen im Iran

Am 1. Mai, dem internationalen Tag der Arbeit, dürfen die iranischen Werktätigen nicht demonstrieren. Und zum Feiern ist ihnen nicht zumute: Die meisten leben unterhalb des Existenzminimums, unabhängige Gewerkschaften sind nicht erlaubt, Proteste werden mit Gewalt niedergeschlagen. Eine Bestandsaufnahme.
Die ArbeiterInnen in Teheran erwarten derzeit ein Urteil des obersten Gerichtshofes. Es geht um Lohnerhöhungen, die rückwirkend für das vergangene iranische Jahr – 21. März 2013 bis 20 März 2014 – gelten sollen. Die Regierung hatte den Mindestlohn für diesen Zeitraum auf umgerechnet etwa 102 Euro im Monat festgelegt. Wirtschaftsexperten berechneten der staatlichen Nachrichtenagentur IRNA zufolge das Existenzminimum für eine fünfköpfige Teheraner Familie in dem Jahr auf etwa 600 Euro monatlich. Deshalb klagten Arbeitnehmervertreter gegen die Regierung, weil diese ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze vorgesehen hatte. Wenn das Urteil zu ihren Gunsten ausfällt, bedeutet das für die ArbeiterInnen eine Lohnerhöhung von sechs Prozent. Doch selbst dann bliebe der Mindestlohn weit unter der Armutsgrenze.
Offizielle Ausbeutung
Arbeitgeber und Regierung hätten in den vergangenen Jahren die Werktätigen extrem ausgebeutet, klagen ArbeiteraktivistInnen: keine Lohnerhöhungen trotz rasant steigender Inflation, späte Auszahlung der Löhne – in manchen Fällen mit Verzögerungen bis zu sechs Monaten -, und willkürliche Kündigungen.
Viele ArbeiterInnen haben keine staatliche Kranken- und Rentenversicherung, obwohl ihnen diese gesetzlich zusteht. Immer mehr werden von ihren Firmen entlassen und dann mit Zeitverträgen neu eingestellt – um so den Anspruch auf bestimmte Leistungen zu verlieren. Mehdi Najafpur, Vorstandsmitglied der staatlichen Gewerkschaft für ZeitarbeiterInnen, bestätigt die zunehmende Verbreitung solcher Werkverträge: „Es wird langsam zur Regel, dass Stellen mit ZeitarbeiterInnen besetzt werden, wenn fest angestellte Beschäftigte in Rente gehen.“ Im Nachrichtenportal Khabar Eghtesadi kritisierte der Gewerkschafter Mitte März diese Praxis als „moderne Sklaverei“: „Die meisten ZeitarbeiterInnen werden in den Betrieben vernachlässigt. Sie erhalten niedrige Löhne, unregelmäßige Lohnzahlungen und werden von Sozialleistungen ausgeschlossen“, so Najafpur.

ArbeiterInnen-Demonstration in Teheran: "Gewerkschaften zu haben, ist unser Recht"
ArbeiterInnen-Demonstration in Teheran: „Gewerkschaften zu haben, ist unser Recht“

Für Arbeiter ohne Sozialleistungen ist laut Gesetz der iranische Wohlfahrtsverband zuständig. Einer Statistik des „Zentrums für die Verteidigung der Menschenrechte“ (ZVM) zufolge haben mehr als 60 Prozent der ArbeiterInnen in kleinen Betrieben keine Sozialversicherung. Kinder unter 15 Jahren bilden darunter einen bemerkenswerten Anteil. Die Lage dieser Kinder ist besonders unübersichtlich. Sie arbeiten in der Regel in Familienbetrieben. Laut dem ZVM bedürfen sie besonderer Unterstützung: 80 Prozent von ihnen erhalten dem Zentrum zufolge überhaupt keinen Lohn. Hinzu kommt, dass die meisten der Betriebe unangemeldet sind.
Dabei ist nach Paragraph 29 des iranischen Grundgesetzes die Regierung verpflichtet, allen BürgerInnen Kranken- und Rentenversicherung zu gewähren und für Arbeitslose und Erwerbsunfähige Sorge zu tragen. Und laut Paragraph 43 des Grundgesetzes hat jeder das Recht auf Arbeit. Leider ist die Regierung diesen Verpflichtungen bisher nicht nachgekommen.Und auch die Arbeitnehmervertretungen konnten die Rechte der Beschäftigten nicht ausreichend durchsetzen.
Der Wunsch nach freien Gewerkschaften
Dabei hat die Arbeiterbewegung im Iran eine bald 110-jährige Geschichte: Die erste Gewerkschaft gründete sich 1905 in einer kleinen Druckerei in Teheran. Die Bewegung erreichte in Kürze zunächst andere Fabriken in Teheran und den Städten Masched, Tebriz und Anzali, und bald darauf das ganze Land. Die Forderungen waren zunächst gerechte Bezahlung und ein achtstündiger Arbeitstag.
Trotz der Niederschlagung der Bewegung durch die wechselnden Regierungen konnten die Gewerkschaften im Iran zunächst stetig wachsen. 1945 gab es den ersten Streik in der Ölindustrie. Die Ölarbeiter in der Stadt Kermanshah legten die Arbeit für sechs Tage nieder. Ihre Forderungen waren unter anderem die Reduzierung der Arbeitszeit, Lohnerhöhungen und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Bereits ein Jahr später streikten 10.000 Ölarbeiter in der Stadt Aghajari zwei Wochen lang. Zwei Monate später schlossen sich Hunderttausende diesem Streik an. Die damalige Regierung schlug den Arbeitskampf mit Gewalt nieder.
Islamische Gewerkschaften
Die Lage der minderjährigen ArbeieterInnen in den Familienbetrieben ist besonders unüberschaubar
Die Lage der minderjährigen ArbeieterInnen in den Familienbetrieben ist besonders unüberschaubar

Im Zuge der Revolution von 1979 wurden auch die ArbeiterInnen aktiver denn je. Sie lähmten das Schah-Regime durch Streiks und begünstigten damit den Sieg der Revolution. Doch die neu gegründete Islamische Republik setzte die Unterdrückung der Arbeiterbewegung fort. Nur für kurze Zeit konnte sie sich frei entfalten und die Regierung zwingen, ihre Forderungen anzuerkennen. Doch mit dem Beginn des Iran-Irak-Kriegs im September 1980 änderte sich die Situation drastisch: Die islamische Regierung rief den Kriegszustand aus und verlangte von den ArbeiterInnen, ihre Forderungen zurückzustellen. Jede kritische Stimme wurde im Keim erstickt. Damaligen Zeitungsberichten zufolge wurden zwischen 1980 und 1985 Tausende ArbeiteraktivistInnen und UnterstützerInnen verhaftet, viele wurden hingerichtet. Um die Arbeiterbewegung unter Kontrolle zu halten, gründete die Regierung dann islamische Gewerkschaften.
In den vergangenen Jahren gab es zwar immer wieder Bestrebungen, freie Gewerkschaften zu gründen. Doch die AktivistInnenen wurden verhaftet, manche auch gefoltert. Ein Extrembeispiel ist Mansur Ossan-Lou von der Unabhängigen Gewerkschaft der Verkehrsbetriebe Teherans: Ihm wurde in der Untersuchungshaft die Zunge geschlitzt. Man hatte ihm gedroht, die Zunge abzuschneiden, sollte er wieder laut protestieren.
Kritik wird lauter
Doch auch solche brutalen Repressalien konnten die Forderungen der ArbeiterInnen nicht aus der Welt schaffen. Deren enorme Probleme sind dieser Tage aktuelles Thema in den iranischen Medien. Dabei äußert sich auch der Wunsch nach unabhängigen Gewerkschaften wieder öfter. Viele AktivistInnen erwarten vom neuen iranischen Präsidenten Hassan Rouhani, sein im Wahlkampf gegebenes Versprechen einzuhalten und den Arbeitern die Gründung unabhängiger Gewerkschaften zu ermöglichen.
Immerhin: Die neue Regierung hat für die etwa 12 Millionen ArbeiterInnen des Landes den Mindestlohn um 18 Prozent erhöht. Doch Experten schätzen die Inflationsrate allein in den kommenden zehn Monaten auf etwa 40 Prozent. Damit wäre auch diese Lohnerhöhung nicht ausreichend.
SEPEHR LORESTANI
Aus dem Persischen: SAID SHABAHANG