Das kranke Doppelleben

Gesellschaftliche und politische Zwänge hinterlassen Spuren in der Psyche der IranerInnen. Nach inoffiziellen Angaben sind etwa 40 Prozent der Bevölkerung der Islamischen Republik an Depressionen und anderen psychischen Leiden erkrankt. Gefährdet seien vor allem junge Menschen, sagen PsychologInnen.
„Es war der Druck – der allgegenwärtige Druck, der auf mir lastete“, sagt Farhad K., der seit vier Monaten in Deutschland lebt: „Auch die ständige Angst, meinen Job zu verlieren, und meine schlechte finanzielle Situation haben mich krank gemacht.“ Der 25-jährige Iraner leidet nach eigenen Angaben unter starken Depressionen und musste deshalb nach seiner Ankunft in Deutschland psychiatrisch behandelt werden.
Wie viele IranerInnen tatsächlich – wie Farhad – unter seelischen Beschwerden leiden, ist schwer feststellbar. Zahlen und Angaben variieren stark: Glaubt man Ali Akbar Sayari, steigt die Zahl derer, die unter seelischen Problemen leiden, von Jahr zu Jahr. Der halbamtlichen Nachrichtenagentur MEHR sagte der frühere Mitarbeiter des iranischen Gesundheitsministeriums, dass etwa 40 Prozent der IranerInnen psychisch erkrankt seien. Offizielle Zahlen liegen etwas niedriger: Das Gesundheitsministerium selbst ließ vor kurzem verlauten, der Anteil der IranerInnen, die psychische Leiden aufweisen, liege bei 21 Prozent.
Nach Einschätzung der Teheraner Psychotherapeutin Leila Ghassemi spiegeln die Zahlen des Gesundheitsministeriums jedoch nicht die Realität wieder. „In Deutschland und anderen Industrienationen erkrankt jeder dritte Erwachsene an einer psychischen Krankheit. In einem Land wie dem Iran, wo die Bevölkerung sich täglich mit ganz anderen Problemen konfrontiert sieht, müsste die Zahl der seelisch Leidenden deshalb um Einiges höher sein als die, die von amtlicher Seite genannt wird“, sagt Ghassemi zu TFI.
Politische und gesellschaftliche Zwänge

"Will ich das Leben führen, dass Millionen anderer junger Menschen in anderen Teilen der Welt führen, muss ich ein Doppelleben leben."
„Will ich das Leben führen, das Millionen anderer junger Menschen in anderen Teilen der Welt führen, muss ich ein Doppelleben leben.“

Über die Ursachen für die psychischen Nöte der IranerInnen sind sich Fachleute weitgehend einig: „Im Iran ist es schwer, Herr über das eigene Schicksal zu sein. Vom Staat vorgegebene Zwänge und Einschränkungen verhindern ein leichtes Leben. Das beeinflusst natürlich die Psyche der Menschen“, so der in Deutschland lebende Psychiater und Psychotherapeut Abbas Abtahi gegenüber TFI.
So ist im Iran das Recht auf freie Meinungsäußerung stark eingeschränkt. Oft werden DissidentInnen willkürlich verhaftet. Die islamische Sittenpolizei kontrolliert die Einhaltung des Kopftuchzwangs für Frauen. Discos und Partys sind verboten. Auch das Zusammenleben junger Paare ohne Trauschein steht unter Strafe.
„Die IranerInnen müssen sich oft zensieren und verstellen, weil es neben den staatlichen Maßregelungen auch gesellschaftliche Zwänge und Tabus gibt“, sagt Abtahi. Die Teheraner Psychotherapeutin Ghassemi sieht vor allem im unfreien Umgang mit Sexualität einen Grund für die seelische Erkrankung vieler junger IranerInnen: „Schon in den Schulen wird Kindern in jungen Jahren eingetrichtert, dass Körperlichkeit etwas Schlechtes sei. Darum haben viele IranerInnen ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Sexualität. Das hinterlässt natürlich auch Spuren im Verhältnis zwischen Frauen und Männern“, so Ghassemi.
Maryam S., eine Studentin aus Teheran, die sich seit einem Jahr in Therapie befindet, kann die Ausführungen von Abtahi und Ghassemi nur bestätigen. Sie hatte große Probleme, den traditionellen moralischen Werten der Islamischen Republik gerecht zu werden: „Als Frau kann ich nicht so leben, wie ich es mir wünsche. Politik und Gesellschaft schreiben mir vor, wie ich mich zu verhalten und zu kleiden habe. Will ich das Leben führen, das Millionen anderer junger Menschen in anderen Teilen der Welt führen, muss ich ein Doppelleben leben. Und genau das Führen eines solchen Doppellebens hat mich seelisch extrem belastet“, so Maryam im Gespräch mit TFI.
Marzieh Vahid-Dastjerdi: "Die Armut ist für die Hälfte der psychischen Erkrankungen im Iran verantwortlich!"
Marzieh Vahid-Dastjerdi: „Die Armut ist für die Hälfte der psychischen Erkrankungen im Iran verantwortlich!“

Laut Ghassemi ist neben dem politischen und gesellschaftlichen auch der wirtschaftliche Druck ein Grund für die psychischen Erkrankungen vieler Iraner. Auch Marzieh Vahid-Dastjerdi, Gesundheitsministerin im Kabinett Ahmadinedschad, nennt gegenüber der Nachrichtenagentur ILNA die Armut als wichtige Ursache für psychische Erkrankungen. Vahid-Dastjerdi zufolge ist sie sogar für die Hälfte der psychischen Erkrankungen verantwortlich.
Schlechte Voraussetzungen für Therapie
„Aber gerade sozial schwache IranerInnen können sich eine Therapie nicht leisten, da eine Behandlung von den Kassen nicht vollständig finanziert wird“, klagt Ghassemi. Außerdem seien seelische Erkrankungen wie Depressionen für viele ohnehin ein Thema, über das nicht gerne gesprochen wird. Sie würden verharmlost, die Arbeit von TherapeutInnen nicht ernst genommen, so Ghassemi. Viele schämten sich, professionelle Hilfe aufzusuchen.
Iranische PsychologInnen und PsychiaterInnen sind sich einig: Solange sich das politische und gesellschaftliche System mit seinen konservativen Wertvorstellungen in das Privatleben der Menschen im Gottesstaat einmischt, Druck ausübt und mit Strafen droht, wird die Zahl der seelisch Erkrankten wohl wachsen – und eine Behandlung durch TherapeutInnen kaum erfolgreich sein.
  Jashar Erfanian/ Nahid Fallahi