Charta der Bürgerrechte: Ein Schritt vorwärts, zwei zurück
Die Lösung des Atomkonflikts und die Verbesserung der Wirtschaftslage im Iran haben für die Regierung Hassan Rouhanis oberste Priorität. Dennoch hat der iranische Präsident Themen wie die politische Öffnung im Land nicht aus den Augen verloren und mit der Ausarbeitung einer Charta der Bürgerrechte begonnen, die ebenso viele Unterstützer wie Gegner hat.
Den Schutz des Lebens und der Gesundheit, die Menschenwürde, Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit, den freien Zugang zu Informationen für alle BürgerInnen, Transparenz, Beteiligung der BürgerInnen am gesellschaftlichen Leben, das Recht auf Arbeit und soziale Sicherheit, Umweltschutz – all diese Themen soll die iranische Charta der Bürgerrechte behandeln. Ihr Entwurf, den der neue iranische Präsident Hassan Rouhani derzeit erarbeiten lässt, hat von Anfang an ebenso viele Gegner wie Unterstützer.
Kayhan, die Zeitung der Ultrakonservativen etwa, hält die Charta für eine politische Propagandaschrift, die die Regierung von ihrer eigentlichen Arbeit abhalte. Die solle sich mit dringenderen Themen wie Arbeitslosigkeit und Inflation beschäftigen, so Kayhan. Der in Teheran ansässige Experte für politische Entwicklung Farzam Mehraeen dagegen glaubt, dass die Benennung und Bekräftigung der Bürgerrechte ein positiver Schritt für die politische Entwicklung des Landes sei. Offen zu bestätigen, dass Menschen Rechte hätten und dass das politische System verpflichtet sei, diese zu respektieren, helfe den Bürgern, ihre Rechte einzufordern, so Mehraeen. Das stärke die Grundlagen der Demokratie.
Hindernisse
Der iranische Journalist und Kritiker der Islamischen Republik Issa Saharkhiz ist der Ansicht, Rouhani wolle mit dem Entwurf ein Wahlversprechen in die Tat umsetzen. Saharkhiz sagt: „Wenn die Regierung über Bürgerrechte diskutiert, drückt sie einen Teil der Forderungen der Menschen aus. Das erhöht die Erwartungen der Gesellschaft.“ Allerdings sieht Saharkhiz ein grundsätzliches Problem in der doppelten Herrschaftsstruktur des Iran:“Einerseits will die Regierung eine Verbesserung des politischen Klimas, andererseits leistet der Gegenpol der Macht [die Ultrakonservativen, TfI] Widerstand dagegen.“ Seit Rouhani das Präsidentenamt übernommen hat, seien viele Todesurteile vollstreckt worden, neue Zeitungen dürften nicht erscheinen, die Diskriminierungen religiöser Minderheiten weite sich aus. Unter diesen Umständen und da starke Kontrollinstanzen in der Regierung fehlten, stünden der Umsetzung der Bürgerrechtscharta viele Hindernisse im Weg.
Ruf nach Änderung des Grundgesetzes
Viele Beobachter erkennen ein wesentliches Problem der Bürgerrechtscharta darin, dass sie den Begriff „Menschenrechte“ vermeidet. Er sei aber die Grundlage, auf der in vielen Ländern Bürgerrechte enstanden seien, meinen viele iranische Intellektuelle. Im Iran aber leite sich das Zivilrecht aus der Scharia, dem islamischen Recht, ab. Deshalb könne die Wahrung der Bürgerrechte im Iran allein durch eine Änderung des Grundgesetzes und eine vom Islam unabhängige Gesetzgebung erreicht werden.
Was sagen die BürgerInnen?
Für große Teile der iranischen Bevölkerung hat die Diskussion über die Bürgerrechtscharta keine große Priorität. Zu sehr sind sie mit dem alltäglichen Überlebenskampf beschäftigt. „Wenn die Charta zu Verbesserung der Wirtschaftslage führt, ist sie gut”, sagt etwa ein Teheraner Taxifahrer. Der Rest sei “unwichtig“. Die Charta berücksichtige nicht die Rechte aller “Minderheiten, Subkulturen und Ethnien”, sagt ein Philosphiestudent. Er sei homosexuell: “Aber in keinem Gesetz der Islamischen Republik wurde Menschen wie mir je irgendein Recht zugesprochen.“ Ein Jura-Doktorand sieht ein grundlegendes Problem der Charta darin, dass sie allein von staatlicher Seite entworfen wurde. Die Erfahrung zeige, dass es wichtig sei, dass Nichtregierungsorganisationen einen wesentlichen Teil zu solchen Entwürfen beitrügen. “Die jetzige Charta scheinen aber nur einige Intellektuelle mit Blick auf die Toleranzgrenzen des Islam und des iranischen Staates entworfen zu haben”, glaubt er.
Auf ein anderes Defizit der Charta weist ein im Iran lebender Afghane hin: “Sie bezieht sich nur auf iranische Bürger, obwohl Hunderttausende Migranten im Iran leben”. Seine Frau sei zwar Iranerin, sagt der Mann, doch “wir haben Probleme, Ausweise für unsere Kinder zu bekommen”. Auch dafür müsse die neue Regierung eine Lösung finden.
Trotz aller Kritik ist Rouhani entschlossen, die Bürgerrechtscharta umzusetzen. Kürzlich gab der Minister für Kommunikation und Technologie Mahmoud Vaezi bekannt, dafür sei eine Arbeitsgruppe einberufen worden. Noch ist nicht klar, ob das von den Konservativen beherrschte Parlament dem Entwurf zustimmen wird. Selbst wenn die Regierung es schafft, den Gesetzentwurf durch das Parlament zu bringen, müsste noch der Wächterrat zustimmen. Seine Mitglieder lehnen eine politische Öffnung des Iran aber entschieden ab.
Pooya Azadi
Aus dem Persischen: Parisa Tonekaboni