"Die Mädchen" und die Ayatollahs

Staatlicher Kleiderzwang: ja oder nein? Diese Frage spaltet die iranische Gesellschaft. Nicht nur in der Bevölkerung, auch innerhalb der Geistlichkeit wird heftig gestritten. Während eine Minderheit den so genannten Hidjab mit allen Mitteln verteidigen will, erklären andere, im Koran gebe es keinen entsprechenden Zwang. Der Iran stehe vor einem sozialen Erdbeben, glauben sogar die Regierenden. In einer solchen Situation ist das Kopftuch mehr als nur ein Stück Stoff.


 Von Ali Sadrzadeh
Wer „Verderben“ verbreitet, begeht nach dem Strafgesetzbuch der Islamischen Republik Iran ein Verbrechen, für das er zu mehrjähriger Gefängnisstrafe oder sogar zum Tode verurteilt werden kann. Die Wege, die zum „Verderben“ führen, sind zahlreich: Alkoholkonsum und -verkauf, Prostitution, Zersetzung des Glaubens, Schwarzmalerei, Verbreitung „falscher“ Mystik und vieles mehr – alles, was zur Schwächung der „Gottesordnung“ in der Islamischen Republik führen kann.
Am vergangenen Dienstag kam ein weiterer Tatbestand hinzu: Missachtung des Hidjab, also der islamischen Kleidervorschriften. An diesem Tag lieferte der Teheraner Polizeichef General Hossein Rahimi eine neue Definition des „Verderbens“: Frauen, die in der Öffentlichkeit ihr Kopftuch abnähmen und es als Fahne hissten, verbreiteten Verderben. Sie würden dafür von der Justiz künftig „entsprechend verurteilt“, so der oberste Polizist der Hauptstadt.
Der General ist ein Mann des Schlachtfeldes. Bevor er vor einem Jahr nach Teheran kam, war Rahimi Sicherheitschef der Provinz Belutschistan, einer schwierigen, manche sagen unregierbaren Grenzregion zu Pakistan und Afghanistan. Die Belutschen sind mehrheitlich Sunniten, ihre Provinz ist eine Hauptroute für Drogenschmuggel. Der Landesteil gilt als das Armenhaus des Iran.

Die Härte des Generals

Der General bringt also zweifelsohne viel Erfahrung mit. Nun ist er Polizeichef einer Mega-Metropole, deren genaue Einwohnerzahl niemand kennt. Die Angaben variieren zwischen 8 und 14 Millionen.
Und in Teheran hat er viel zu tun. Auf derselben Pressekonferenz, auf der er über den Zusammenhang zwischen Kopftuch und „Verderben“ referierte, berichtete Rahimi auch, wie er eine Woche zuvor erfolgreich „den Aufstand“ der Sufis, der Derwische, im Norden der Hauptstadt niedergeschlagen hat. Es gab mehrere Tote und mehr als zweitausend Verhaftete. Zeitweise hätten seine Männer daran gedacht, panzerbrechende Waffen gegen das Haus einzusetzen, in dem der Führer der Derwische wohnt. Bei diesem handelt sich um einen 90-jährigen kranken Mann, einen landesweit bekannten Rechtsanwalt, der stets Friedfertigkeit predigte und dessen Haus die Polizei nun mit Panzerfäusten angreifen wollte. Dazu kam es aber nicht.

Vida Movahedi, Initiatorin einer Bewegung gegen den Kopftuchzwang
Vida Movahedi, Initiatorin der Bewegung gegen den Kopftuchzwang mit dem Motto „Die Tochter der Revolutionsstraße

 
Das soziale Erdbeben

Der Iran stehe vor einem sozialen Erdbeben, sagen selbst die, die das Land regieren. Drei Viertel der Bevölkerung gehörten zu den Unzufrieden, so das Ergebnis einer Untersuchung des Innenministeriums, die eine Woche nach den landesweiten Unruhen Anfang des Jahres veröffentlicht wurde. Drei Tage vor der Pressekonferenz des Generals hatte der iranische Wohnungsbauminister an der Universität Teheran eine Rede gehalten. Deren Titel lautete: „Unsere Gesellschaft zerfällt“.
Man mag sich wundern, warum die Mächtigen einer Gesellschaft, die Berge von Problemen zu bewältigen haben, ausgerechnet die Frage des Kopftuchs zu einem Problem der nationalen Sicherheit erheben. Oder müssen sie das tun, weil die Sicherheit des Staates deshalb tatsächlich gefährdet ist? Denn gerade in einer solchen Situation verwandelt sich das Kopftuch in etwas anderes: in mehr als ein Stück Stoff. Es kann zu einem Symbol des Zerfalls oder der Beständigkeit werden.
Kopftuchlosigkeit und Kapitalverbrechen
Wie auch immer: Was die Kleidervorschriften für Frauen angeht, wagt General Rahimi juristisch gesehen einen Riesensprung. Er erklärt auf einen Schlag eine Ordnungswidrigkeit zu einem Kapitalverbrechen. Bis jetzt sah Artikel 368 des iranischen Strafgesetzbuchs eine Haftstrafe von zehn Tagen bis zu zwei Monaten und eine Geldstrafe zwischen umgerechnet einem und zehn Euro dafür vor, wenn eine Frau die geltenden Kleidervorschriften missachtete.
Warum dieser Riesensprung? Was will, was kann der Polizeichef mit seiner Warnung erreichen und wer sind seine Adressaten – ausschließlich die Frauen? Und wie bedrohlich ist der Verstoß von Frauen gegen Kleidervorschriften tatsächlich? Zunächst muss man dem General zustimmen. Er schätzt die Lage richtig ein. Die neue Bedrohung, die seit etwa vier Wochen die islamische Republik heimsucht, ist in der Tat sehr groß – und im Kern auch systemgefährdend.

Zwei Welten, zwei Wertesysteme, zwei Methoden
Fortsetzung auf Seite 2