Atomkonflikt: Wirrwarr in Teheran

Es scheint, als seien sich die Verantwortlichen im Iran über das weitere Vorgehen im Atomkonflikt nicht einig. Oder ist das eine Strategie, um den Sieg der Reformer bei den nächsten Parlamentswahlen zu verhindern? Eine Bestandsaufnahme von Mehran Barati.
Am späten Abend des 2. April 2015 hatte sich die iranische Verhandlungsdelegation in Lausanne mit der Gruppe 5+1, bestehend aus den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates und Deutschland, über die Eckdaten einer “friedlichen Nutzung der Atomenergie” im Iran verständigt. Am selben Abend veröffentlichte US-Außenminister John Kerry auf der Webseite seines Ministeriums ein sogenanntes “Fact Sheet”, ein Infoblatt also, das neben protokollarischen Angaben auch Einzelheiten der Vereinbarung enthielt.
Schon am 3. April begann daraufhin im Iran ein Streit darüber, ob die Iraner sich von den Amerikanern hätten über den Tisch ziehen lassen. Denn in dem amerikanischen Infoblatt stand wörtlich, der Iran müsse „der internationalen Atomagentur die Überprüfung und Untersuchung aller verdächtigen bzw. geheimen Nuklearanlagen überall im Lande ermöglichen”. Nach westlichem Verständnis fallen darunter auch Militäranlagen mit vermuteten kerntechnischen Aktivitäten. Auch der Internationalen Atomagentur IAEA namentlich bekannte Atomwissenschaftler des Iran sollen dem Fact Sheet zufolge befragt werden können.
Mit ihrem Einverständnis dazu hätte die iranische Verhandlungsdelegation einen nie zu akzeptierenden Tabubruch begangen, so die einhellige Meinung der konservativen Regierungsopposition im Iran. Tatsächlich hatte Außenminister Javad Zarif mit seiner Zusage, das Zusatzprotokoll zum Atomsperrvertrag umzusetzen, auch die Überprüfung von möglichen militärischen Dimensionen des iranischen Atomprogramms akzeptiert. Spätestens in Lausanne mussten die Iraner erkennen, dass es ohne den Beitritt des Landes zum Zusatzprotokoll keine Einigung über ein Ende der Wirtschafts- und Finanzembargos geben würde.
Unvermeidbare Flucht nach vorn
In dem Zusatzprotokoll zum NPT (Non-Proliferation of Nuclear Weapons, deutsch: Atomwaffensperrvertrag) gebe es keinen expliziten Paragrafen, der die Inspektion militärischer Anlagen vorsehe, erklärte der Sprecher der iranischen Atomorganisation, Behrooz Kamalvand, am 13. Mai. In Paragraf 5 sei ausschließlich vermerkt, sollte die IAEA die Inspektion von nichtnuklearen Anlagen für notwendig erachten, müsste sie dieses Ansinnen mit dem betreffenden Land erörtern. Sollte das betroffene Land dem Vorhaben warum auch immer nicht zustimmen, müsste die Überprüfung angrenzender Gebiete erwogen oder nach anderen, für beide Seiten akzeptablen Methoden gesucht werden.
Mit dieser Feststellung wurde indirekt und zum ersten Mal offiziell die Inspektion von Militäranlagen mit Einschränkungen und unter dem Titel “nichtnukleare Anlagen“ akzeptiert.

Erleichterung und Freude nach dem Atom-Deal auf den Straßen Teherans
Erleichterung und Freude nach dem Atom-Deal in Lausanne auf den Straßen Teherans

Am 18. Mai erklärte der stellvertretende Außenminister des Iran, Abbas Araghchi, im ersten iranischen Fernsehen „Wenn wir die Umsetzung des Zusatzprotokolls akzeptieren, ergibt sich daraus für die IAEA die Möglichkeit eines moderierten Zugangs zu solchen Orten, die keine kerntechnischen Anlagen sind.” Diese Worte, die die Möglichkeit von Inspektionen aller Orte im Iran, darunter auch militärische Zentren – damit sind die Militäranlagen der Revolutionsgarde (RG) im Südteheraner Parchin gemeint – durch die IAEA beinhalteten, erregten die Wut der Regierungsgegner.
Am 24. Mai soll Araghchi in einer nichtöffentlichen Sitzung des iranischen Parlaments sogar gesagt haben: „Wir haben einer moderierten Inspektion militärischer Zentren gemäß dem Zusatzprotokoll zugestimmt. Während einer Sitzung hat man uns eine Liste iranischer Atomwissenschaftler übergeben, mit denen Gespräche geführt werden sollen. Dem haben wir aber nicht zugestimmt.” Und Außenminister Zarif soll auf dieser Parlamentssitzung berichtet haben, dass in Wien über nicht angekündigte Inspektionen iranischer Atomanlagen und “moderierte” Inspektionen militärischer Einrichtungen unter der Voraussetzung einer 24-tägigen Voranmeldung diskutiert werde. Darauf kam es im Parlament zu Tumulten. Ein von einem Abgeordneten aufgenommenes Video zeigt Abgeordnete, die “Verrat, Verrat!” rufen. Das Video kursiert in fast allen iranischen Medien.
Regierung in verfahrener Lage
Die politische Situation der Regierung des moderaten Präsidenten Hassan Rouhani ist in Sachen Atomverhandlungen verfahren. Innenpolitisch muss man von einer Lose-Lose-Situation sprechen, denn beide Lager, Befürworter und Gegner einer Verständigung mit 5+1, können keinen Ausweg aus der Situation finden. Der Revolutionsführer unterstützt die Verhandlungslinie der Regierung nur bedingt, die Armee folgt dem Revolutionsführer, die RG ist gespalten. Die Sicherheitsorgane der RG folgen eher den Konservativen und die Parlamentsmehrheit bekämpft die Regierung.
Die Kommandeure der RG hatten schon immer unterschiedliche Ansichten zu innen- und außenpolitischen Fragen. Nach Paragraf 150 der iranischen Verfassung ist die RG Wächterin der islamischen Revolution, für sie ist die Außen- und Innenpolitik damit nur aus der Perspektive ihrer Wächterrolle zu bewerten. Die sehr unterschiedlichen Bewertungen der Modalitäten der Atomverhandlungen sind gravierend:
– Der iranische Verteidigungsminister Hossein Dehghan erklärte am 8. April, alle Behauptungen, der Iran hätte der Inspektion seiner       Militäranlagen zugestimmt, seien gelogen. Der Besuch dieser Zentren gelte grundsätzlich als “Rote Linie” und werde nicht geduldet
– Am 5. April gratulierte der Oberkommandierende der bewaffneten Kräfte des Landes, Generalleutnant Hassan Firouzabadi, dem Staatspräsidenten und seinem Außenminister für die gute Verhandlungsführung in Sachen Atomkonflikt.
– Am 7. April lobte der Oberkommandierende der RG, Generalleutnant Mohammad Ali Jafari, widerwillig die verhandelnden Diplomaten in Lausanne und bestätigte den Amerikanern, dass sie nicht mehr die Politik des “Regime Changes” und eines militärischen Angriffs auf den Iran verfolgen, sondern den Weg der Diplomatie gehen würden. Wenige Tage später wechselt er zum Lager der Kritiker.
– Am 18. April erklärte der Brigadegeneral Hossein Salamati: „Wir lassen nicht einmal den Gedanken an eine Inspektion einfacher Militäranlagen zu. Solche Inspektionen betrachten wir als Besetzung unseres Landes. Wenn die Gegenseite darüber redet, müssen wir ihr mit heißem Blei antworten.“
– Am selben Tag erklärte der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Ali Shamkhani, bei den nuklearen Verhandlungen gebe es einen nationalen Konsens.
– Am 23. Mai erklärte der Kommandierende der Luftstreitkräfte der RG, Generalmajor Amir Ali Hajizadeh, jede Art Inspektion militärischer Anlagen, koordiniert oder nicht, auch an Orten in ihrer Umgebung, werde als Spionage betrachtet und mit heißem Blei beantwortet.
– Khameneis Trauma ist das Schicksal von Saddam Hussein und Ghaddafi. Den Amerikanern traut er absolut nicht. Er vermutet immer noch ein Komplott, sein Regime auf kaltem Wege zu stürzen. Für ihn ist der Umgang mit Saddam Hussein und Ghaddafi ein Indiz dafür, dass es den Amerikanern nicht ausreichen würde, das iranische Atomprogramm als friedlich zu wähnen. In Irak hätte die IAEA nirgendwo Massenvernichtungswaffen gefunden, trotzdem habe George Bush den Irak angegriffen und schließlich auch Saddam getötet. Ghaddafi habe zweimal seine Nuklearanlagen „den Amerikanern geschenkt”, Libyen wurde trotzdem angegriffen und in das heutige Elend gestürzt. Khamenei misstraut auch den Reformern und Moderaten seines Landes. Schließlich verbinde der Westen mit einer erfolgreichen Atomvereinbarung eine Stärkung der Reformisten, um auf diesem Wege den „Regime Change“ zu realisieren. Khamenei und Kommandeure der RG möchten außerdem verhindern, dass die politischen Kräfte um Ayatollah Rafsanjani, Staatspräsident Rouhani oder auch den Ex-Präsidenten Mohammad Khatami von der nuklearen Einigung bei den kommenden Parlamentswahlen profitieren. Deshalb würden sie die Atomverhandlungen lieber bis nach den Parlamentswahlen am 26. Februar 2016 hinausschieben.
– Bestimmte Kräfte innerhalb der RG und ihrer Geheimdienste sind ständig bemüht, Khamenei davon zu überzeugen, dass die jetzige Linie der Atomverhandlungen die nationale Sicherheit gefährden und den Interessen des Systems zuwiderlaufen würde. Ob sie damit Erfolg haben werden, ist noch offen.
24 Tage für die Ehre von Zarif
Die IAEA will die Militäranlage der RG im Südteheraner Parchin inspizieren und dort Proben entnehmen
Die IAEA will die Militäranlage der RG im Südteheraner Parchin inspizieren und dort Proben entnehmen

Nach den Paragrafen 4 und 5 des Zusatzprotokolls zum NPT darf die IAEA zur Überprüfung von eventuellen radioaktiven Prozessen und widersprüchlichen Informationen darüber zusätzliche Inspektionen an solchen Orten vornehmen, die nicht zu Nuklearanlagen gehören. Solche Inspektionen müssten in besonderen Fällen maximal zwei Stunden und bei anderen Verdachtsfällen 24 Stunden vorher dem betroffenen Land mitgeteilt werden. Die IAEA ist befugt, an solchen Orten Proben zu entnehmen. Sollte das betroffene Land aus bestimmten Gründen eine Probeentnahme am vorgesehenen Ort nicht ermöglichen können, könnte das Ansinnen der Inspekteure dann in der angrenzenden Nachbarschaft oder durch andere Maßnahmen realisiert werden. In Paragraf 84 der Durchführungsbestimmungen zum Zusatzprotokoll steht außerdem, die IAEA könne als ergänzende Maßnahme solche Probeentnahmen auch ohne vorherige Anmeldung durchführen. Die Durchführung von kurzfristigen oder sofortigen Inspektionen und Probeentnahmen setzt aber voraus, dass die Inspekteure der IAEA sich bereits im betroffenen Land befinden und nicht erst auf ihre Einreisevisa warten müssten, die nach Paragraf 12 des Zusatzprotokolls normalerweise einen Monat vor der beabsichtigten Einreise beantragt werden müssen.
Auf den Iran bezogen will die IAEA die Militäranlage der RG im Südteheraner Parchin inspizieren und dort Proben entnehmen. Die direkte Inspektion der Anlage in Parchin scheidet nach Anweisung von Ayatollah Khamenei als Möglichkeit aus. Am 20. Mai hatte er anlässlich seines Besuchs einer Universität der RG (Imam Hussein Universität) erklärt: “Bei keinem der militärischen Zentren wird eine Inspektion erlaubt, auch erlauben wir keine Gespräche mit unseren Atomwissenschaftlern oder Wissenschaftlern sonstiger sensibler Bereiche. Die Inspektion einer Militärbasis durch einen ausländischen Inspekteur, selbst die Rede darüber, gleicht einer Besetzung unseres Landes und bedeutet eine nationale Erniedrigung.”
Jetzt muss Außenminister Zarif einen Ersatzort in der Umgebung oder in einem Nebengebäude von Parchin anbieten. Unangemeldete und sofortige Inspektionen wird es also nicht geben. Für die Vorbereitung von Ersatzangeboten braucht Zarif 24 Tage Zeit, eine Möglichkeit, die im Zusatzprotokoll oder in den Ausführungsbestimmungen nicht vorgesehen ist. Für die Amerikaner ist die Untersuchung der möglichen militärischen Dimensionen des iranischen Atomprogramms eine Grundvoraussetzung für eine endgültige Einigung mit der Führung in Teheran, so Marie Harf, Sprecherin des US-Außenministeriums.
Noch weitergehender erklärte US-Präsident Barack Obama am 21. Mai in einem Interview mit der Zeitschrift “The Atlantic”, den Iran am Besitz von Atomwaffen zu hindern, sei für ihn auch eine persönliche Frage der Würde und Glaubwürdigkeit. Obma sagte wörtlich: „So Gott   will, werde ich in 20 Jahren noch leben. Sollte der Iran in dieser Zeit in den Besitz einer Atomwaffe kommen, wird man das auch mir anlasten. Es ist also fair zu sagen, dass ich neben dem Interesse an unserer nationalen Sicherheit auch ein persönliches Interesse daran habe, in dieser Sache zu einem Ergebnis zu kommen.”
  MEHRAN BARATI*
Dr. Mehran Barati ist einer der exponierten Oppositionellen aus dem Iran. Er ist regelmäßiger unabhängiger Analyst auf BBC Persian und VOA (Voice of America) Persian und gilt als Experte für internationale Beziehungen.