Zwischen Teheran, Berlin und Paris
Pajand Soleymani entwirft in ihrer Erzählung“Immer mit Zucker“eine surreale Welt aus Kinobildern, Intellektuellenpalaver und traumhaften Verwandlungen. Ein ungewöhnliches Leseerlebnis, das entfernt an die Erzählungen aus „Tausend und einer Nacht“ erinnert. Volker Kaminski hat das Buch gelesen.
Eine junge Frau will Schriftstellerin werden. Sie ist „besessen vom Schreiben“ und plant ein „tolles“ Buch, das es in keiner Teheraner Buchhandlung gibt. Um sich inspirieren zu lassen und eine „weltoffene Person und Kennerin der Geschichte“ zu werden, besucht sie ein Kino. Es ist ein schönes altes Kino mitten in der Stadt mit weichen, roten Sitzen. Das Programm klingt anspruchsvoll: „Geschichte Polens und polnische Filme“, verkündet das Plakat am Eingang. Der Filmklassiker „Asche und Diamant“ des Regisseurs Andrzej Wajda wird gezeigt.
Doch warum ist es im Kino „proppenvoll“ (obwohl der Film Jahrzehnte alt ist und im polnischen Original gezeigt wird)? Wie kann es sein, dass sich die „Zobelmütze“ des Regisseurs „wie ein Reif“ um den Hals der jungen Frau legt? Und wer ist die rätselhafte, schwarz gekleidete Frau auf dem ersten Platz neben dem Eingang, die jeden Hereinkommenden scharf mustert und zu zählen scheint wie ein „Stromzähler“?
Atmosphäre des Surrealen
Sprache und Stil in Soleymanis Erzählung erzeugen eine Atmosphäre des Surrealen und Unvorhersehbaren. Was die junge Frau im Kino erlebt, scheint rätselhaft und folgt eher einer Traumstruktur als dem realen Leben. Dennoch bewegen wir uns in der Gegenwart Teherans. Sheyda, die junge Frau, spricht und denkt wie junge Menschen überall auf der Welt, denen die Gegenwart und Geschichte ihres Landes am Herzen liegen und die ihren eigenen Platz darin finden wollen.
Sheyda kennt Wajdas Film, der vom Schrecken des Zweiten Weltkriegs in Polen und der Unterdrückung durch die Kommunisten danach handelt. Durch ihren Kopf geistern Begriffe wie „Achsenmächte“ und „Arier“, sie liest den Sachbuchklassiker „Aufstieg und Fall des Dritten Reichs“, und in ihrem Buch, das sie plant, soll es offenbar auch um solche schweren Themen gehen.
Dennoch weigert sie sich, dass etwas Bitteres, Düsteres von ihr Besitz ergreift: „Mein Geist wollte so sehr fliegen. Er liebte es frei von Angst zu sein. So weit weg zu fliegen, dass er sich der schwarz gekleideten Frau entziehen konnte.“
Nimm immer Zucker
Ihre Mutter gab ihr einst den Rat: „Schreib nicht bitter. Nimm immer Zucker, auch wenn er etwas kostet, und schütte ihn auf das Bittere deines Kaffees.“
Diesen lebensklugen Rat will Sheyda befolgen, sie will sich als intellektuelle Frau nicht beugen, aber auch nicht bitter werden, und so rät sie einem jungen deutschen Regisseur, den sie im Kino kennenlernt, in seinem neuen Film nicht davon zu erzählen, wie schwer es die Frauen im Iran haben, sondern die Sache anders anzugehen:
„Mach etwas Neues!(…) Die Geschichte ist nicht wichtig, das Thema ist hundertmal wiederholt worden, es ist ausgelutscht. Wir haben so viele reizvolle Dinge.“
Mit ihrem Text liefert die Erzählerin umgehend einen Beweis für diese Behauptung. Immer wieder finden sich „reizvolle Dinge“ darin, sonderbare Begebenheiten und Überraschungen, die das kleine Kinoerlebnis in eine magische Reise durch die Geschichte und Gegenwart Teherans verwandeln.
Auch Sheyda bleibt von den traumartigen Mutationen nicht verschont und verwandelt sich zwischendurch in eine deutsche Künstlerin mit blauen Augen und blonden Haaren, die in einem Berliner Café sitzt. „Es war, als ob auch ich mir selbst fremd geworden wäre.“ Doch bevor sie sich völlig verliert, spürt sie den „Diamanten Daryaye Nur in ihrem Herzen“ und erinnert sich daran, dass sie Iranerin ist.
Gekonnt hat Soleymani diese parabelhafte Reise in ein kleines, surreales Märchen verpackt, das auf sprachlich artistische Weise viel vom Befinden einer jungen Intellektuellen im heutigen Iran erzählt, ohne in den Tonfall der Anklage zu verfallen.
Der Blick nach außen
Soleymani, die in Teheran lebt und dort eine bekannte Theaterregisseurin und Autorin ist, hat sich immer auch in Städten wie Paris und Berlin künstlerisch betätigt. Es ist ihr wichtig, im Iran selbst als Künstlerin zu wirken, doch der Blick nach außen scheint eine wichtige Ader ihres Schaffens.
Der kleine Berliner Bübül Verlag hat diesen Text in einer zweisprachigen Ausgabe in der Übersetzung von Nuschin Mameghanian-Prenzlow herausgebracht. Erhöht wird der Lesegenuss durch atmosphärisch passende Kino-Fotos, die sowohl den Reiz schöner alter Kinosäle als auch die hochtourige Bewegung des Großstadtlebens einfangen (Fotos von Barbara Schnabel).
Seynebs freiheitsdürstender „Geist“ widersteht der Versuchung, verzagt und bitter über die Situation als Frau im heutigen Iran zu schreiben, und so ist es auch keine Überraschung, dass selbst jene unangenehme schwarz gekleidete Frau, die die Kinobesucher anfangs ausspioniert, sich am Ende verwandelt und Seyneb freundlich begegnet: „Endlich konnte ich ihr Gesicht sehen. Im schwachen Licht der Straße ähnelte sie nun meiner Mutter. Sie lächelte.“ Das Geschenk, das sie Seyneb überreicht, ist nichts anderes als ein Päckchen Zucker.
Eine Mut machende Erzählung, die vom Widerstand gegen Vereinnahmung jeglicher Art handelt und dabei so magisch funkelt wie ein kleiner Diamant.
Pajand Soleymani: „Immer mit Zucker“, Roman, übersetzt von Nuschin Mameghanian-Prenzlow, Bübül Verlag, Berlin 2018, 42 Seiten, ISBN-13: 978-3-946807-22-3
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