Ein Land wird depressiv

Trauertage werden im Iran staatlich gefeiert. Fröhliche Feierlichkeiten wie das Neujahrsfest Nouruz finden dagegen keine offizielle Beachtung. Iranische Experten warnen vor den Konsequenzen einer traurigen Lebensweise und fordern Maßnahmen zur kollektiven Erheiterung.
Von Iman Aslani
Seit langem warnen iranische Experten, Depressionen könnten sich zu einer Volkskrankheit im Iran entwickeln. Knapp jeder vierte Iraner leide unter einer psychischen Störung, Frauen seien überdurchschnittlich stark betroffen, ließ Hadi Ayazi, Vizeminister für Gesundheit, Anfang März wissen. Zwölf Prozent der Männer und sechzehn Prozent der Frauen landesweit sind laut Ayazi an Depressionen erkrankt. Doch unabhängige Experten schätzen die Dunkelziffer noch viel höher.
Eine große Rolle spielen dabei finanzielle Probleme. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die in ärmeren Provinzen auf bis zu vierzig Prozent geschätzt wird, sowie die daraus resultierende Perspektivlosigkeit lassen die Alarmglocken läuten. Diese Probleme waren auch Gründe der landesweiten Proteste im Iran im Januar. Doch auch unter wohlhabenden IranerInnen sind Depressionen keine Seltenheit. Selbst wer sich etwa Auslandsreisen leisten kann, klagt in sozialen Netzwerken über Lust- und Perspektivlosigkeit.
Hassan Moussavi Tschalak, Berater der staatlichen Wohlfahrtsorganisation Behzisti, sprach in diesem Zusammenhang kürzlich von einem Phänomen, das Experten in den vergangenen Jahren immer wieder als Bedrohung für die psychische Gesundheit der iranischen Gesellschaft eingestuft hatten: der Mangel an Freude.
„Laut offiziellen Angaben leidet jeder vierte Iraner an einer psychischen Störung“, so Moussavi Tschalak in einem Interview mit der Tageszeitung Etemad. Auch die hohe Kriminalität, die soziale Schieflage, der steigende Drogenkonsum und die „starke Neigung zur virtuellen Welt und sozialen Netzwerken“ seien „Symptome ernstzunehmender Probleme, die bislang ignoriert worden sind“. Moussavi Tschalak fordert deshalb dringend Maßnahmen zur „Herstellung der sozialen Gelassenheit“.
Ein ganzer Staat fördert die Trauer
Das Trauern um den Propheten Mohammed, aber auch um seine Familie macht einen festen Bestandteil der schiitisch-islamischen Kultur aus. Im iranischen Kalender gibt es mehr als ein Dutzend staatliche Trauerfeste, die zum Teil über mehrere Tage, im Monat Moharram sogar mehr als drei Wochen lang begangen werden. Zum Tod des dritten schiitischen Imams Hussein Ibn Ali etwa kleidet sich das ganze Land jedes Jahr wochenlang in Schwarz. Nicht nur im staatlichen Rundfunk wird zehn Tage lang getrauert. Ganze Straßen verwandeln sich in Trauerstätten.
Aber nicht nur religiöse Trauertage werden im Iran groß gefeiert. Der Todestag des Gründers der Islamischen Republik, des Großayatollahs Ruhollah Khomeini, ist ebenso ein wichtiger Trauertag.
Schwerwiegende Folgen
Die Folgen des psychologischen Drucks, der Experten zufolge unter anderem aus der traurigen Lebensweise der Bürger resultiert, sind in der iranischen Gesellschaft klar zu erkennen. Jeder kleine Blickkontakt auf der Straße, jedes Hupen, jede noch so kleine Meinungsverschiedenheit kann schnell in eine heftige körperliche Auseinandersetzung umschlagen. Die iranische Justiz ist damit schon längst überfordert.

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Daneben seien die Abnahme des sexuellen Verlangens und die Senkung körperlicher Aktivitäten weitere Folgen einer psychischen Störung, stellt der Psychologe Mehdi Moslemifar in einem Interview mit dem Internetportal Fararu fest. Auch hier sind die Anzeichen deutlich: Laut dem iranischen Gesundheitsministerium sind fünf Millionen Menschen im Land zuckerkrank. Das habe vor allem mit mangelnder körperlicher Aktivität zu tun, so Moslemifar. Sexuelle Störungen spielen eine signifikante Rolle beim Scheitern von Ehen. Auch dabei dürfte der psychologische Faktor im Vordergrund stehen.
Freude bleibt auf halber Strecke
Bei der Organisation der Trauertage wirken etliche staatliche Instanzen im Iran mit. Von großen und mächtigen religiösen Einrichtungen bis zu lokalen Moscheen sorgen sie dafür, dass diese „einem islamischen Staat entsprechend“ stattfinden. Die Teheraner Stadtverwaltung, die mit lebenswichtigen Projekten wie der Bekämpfung der hohen Luftverschmutzung aus finanziellen Gründen im Verzug gerät, gibt jährlich Geld für die Sanierung und Unterstützung von Moscheen und Trauerstätten aus. Im kommenden Haushalt sind dafür 5 Milliarden Toman, mehr als 850.000 Euro, vorgesehen.
Fröhliche Feierlichkeiten finden dagegen keine vergleichbare Beachtung. Selbst die Geburtstage religiöser Persönlichkeiten werden in der Öffentlichkeit nicht groß gefeiert. Sie werden im Rundfunk zwar angekündigt, im öffentlichen Leben jedoch gibt sich der Staat mit kleinen, meist lokalen Feierlichkeiten zufrieden.
Aufruf zur kollektiven Freude
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