Leseunlust im Iran

Der iranische Buchmarkt verzeichnet seit Jahren Einbrüche. AutorInnen, Verlage und PolitikerInnen sind besorgt über die niedrigen Leserzahlen. ExpertInnen meinen, Hauptgrund sei fehlendes Vertrauen in die Zensurbehörde, die das iranische Verlagswesen dominiert.

Über 50 Prozent des Bestands der öffentlichen Bibliotheken des Iran entsprächen nicht den Bedürfnissen der Gesellschaft und der LeserInnen. Diese Einschätzung äußerte am 19. August Mehrdocht Wazirpour Kashmiri, Vorstandsmitglied der Stiftung der öffentlichen Bibliotheken des Iran, gegenüber der Nachrichtenagentur IRNA. Wazirpour Kashmiri kritisiert vor allem die Verwaltung der Bibliotheken, insbesondere ihre Methode, neue Bücher anzuschaffen: „Der Rückgang der Leserzahl im Iran liegt auch daran, dass Bücher kiloweise und nicht nach Inhalten bestellt werden.“ Dabei spielten persönliche Beziehungen zwischen Bibliotheksverantwortlichen und Verlagen, aber auch Bestechung eine Rolle: „Durch Korruption nehmen Verlage Einfluss auf Bestellungen.“ Es gebe keine Institution, die die Bestellungen kontrolliere.
Keine sicheren Daten

Über 50 Prozent des Bestands der öffentlichen Bibliotheken des Iran entsprächen nicht den Bedürfnissen der Gesellschaft und der LeserInnen
Über 50 Prozent des Bestands der öffentlichen Bibliotheken des Iran entsprächen nicht den Bedürfnissen der Gesellschaft und der LeserInnen

Über das Leseverhalten der IranerInnen existieren nur Schätzungen, zuverlässige Daten gibt es nicht. Deshalb liegen veröffentlichte Zahlen oft weit auseinander: Die eine Statistik schätzt die durchschnittliche tägliche Lesezeit der Bevölkerung auf nur zwei, die andere auf 90 Minuten. Rechengrundlage sind dabei allein Auflagen und Verkäufe von Büchern.
Sichtbar ist, dass an öffentlichen Orten wie etwa in Parks oder öffentlichen Verkehrsmitteln kaum jemand liest. Auch das Lesen auf der Toilette, das laut europäischen Studien im Westen besonders beliebt ist, ist den meisten IranerInnen fremd.
Die Nachrichtenagentur ISNA berichtete, iranische BuchhändlerInnen beschwerten sich über niedrige Verkaufszahlen. Die Zahl seiner KundInnen halte sich in Grenzen, sagt etwa ein Teheraner Buchhändler: „Die meisten kenne ich vom Ansehen.“ Eine kleine Buchhandlung verkauft täglich 20 bis 30 Bücher, eine größere etwa 60. Sogar in der Verkaufsabteilung des Verlags Amir Kabir, eines der größten Verlage des Iran, antwortet ein Verkäufer auf die Frage nach der Geschäftslage: „Sehen Sie sich die menschenleeren Verkaufsräume an und urteilen Sie selbst.“
Auflagen gehen zurück
Was im Iran außer Schulbüchern und akademischen Lehrschriften am meisten verkauft werden, sind esoterische Bücher. Romane oder Lyrik dagegen gehen schlecht. Lagen deren Auflagen vor zehn Jahren durchschnittlich bei 5.000 Exemplaren, waren es vor fünf Jahren nur noch 2.000, heute sind 1.000 Exemplare üblich.
„Die meisten KundInnen kenne ich vom Ansehen“!
„Die meisten KundInnen kenne ich vom Ansehen“!

Fatholah Biniaz, Schriftsteller und Literaturkritiker in Teheran, sagte in einem Interview mit Radio Farda: „Im Allgemeinen ist das Lesen im Iran zurückgegangen. Vor 50 Jahren, als die Bevölkerung im Iran 22 Millionen zählte, wurden Bücher in Auflagen von mindestens 10.000 gedruckt. Nun gibt es über 80 Millionen IranerInnen, und die Auflagen erreichen in manchen Fällen eine Zahl von 300 bis 500.“ Biniaz vertritt die Meinung, die Zensur behindere den Buchmarkt.
Auch die Nachrichtenagentur ISNA vermutet, das Desinteresse der Menschen am Lesen hänge mit den willkürlichen Zensurmethoden des Kulturministeriums zusammen. Die Zensur im Iran erfolgt nach drei Kriterien: Es gibt politische, religiöse und moralische Kategorien. Zu aus moralischen Gründen Verbotenem gehört etwa alles Sexuelle: Sogar das Wort „Brust“ fällt unter die No Goes. Die Empfindlichkeit der Zensurbehörde geht soweit, dass viele literarische Werke jahrelang in der Warteschleife des Kulturministeriums sind. Immer wieder müssen AutorInnen Korrekturen vornehmen. Dies veranlasst Verlage und Schriftsteller, Selbstzensur auszuüben – was sie zu Handlangern der Zensurbehörde macht. Andernfalls müssen sie jedoch mit harten Konsequenzen rechnen.
Um die Zensur zu umgehen, nutzen viele AutorInnen das Internet, um ihre Werke zu veröffentlichen. Damit verzichten sie auf finanzielle Vorteile, doch erreichen oft mehr LeserInnen. Sowieso gibt es kaum SchriftstellerInnen im Iran, die mit dem Schreiben ihren Lebensunterhalt verdienen können.
Ein weiterer Grund für den schlechten Buchverkauf im Iran sind die hohen Preise, die durch Rationierung von Papier entstanden sind. Jedem Verlag steht nur eine begrenzte Menge von Papier zur Verfügung. Das Monopol des Papierhandels liegt in staatlicher Hand. Das treibt den Preis in die Höhe. Auch neue Massenmedien wie das Internet drängen das Buch als Medium zurück. Das ist allerdings keine iranische Besonderheit. In Deutschland errang 2013 das Fernsehen mit 76,8 Prozent Platz Eins bei der Freizeitgestaltung. Das Lesen von Printmedien wie Zeitungen, Zeitschriften und Bücher kam nur auf Platz 14 von 50 Freizeitaktivitäten der Deutschen.
  SEPEHR LORESTANI
Übertragen aus dem Persischen und überarbeitet von Omid Shadiwar