Im Visier der Cyber-Armee

Die in London gegründete Menschenrechtsorganisation „Article 19“ hat im Frühsommer 2015 einen knapp 50-seitigen Report über Computerkriminalität im Iran publiziert. Dem Autor Collin Anderson geht es im Wesentlichen um das unbedarft-riskante Verhalten der User gegenüber einer Regierung, deren Ziel es ist, ihre Bürger zu kontrollieren und zu dominieren.

Das Internet kam im Iran erst relativ spät in Schwung, da in den 1990er und frühen 2000er Jahren der Umgang mit dem Medium noch ziemlich teuer war und als Luxus angesehen wurde. Mit den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2009 kam es zu einem drastischen Wandel. Bis 2014 stieg die Zahl der iranischen WebuserInnen auf 22 Millionen an – 28 Prozent der Gesamtbevölkerung. Eine prosperierende Bloggerszene konnte sich etablieren und rief mit ihren Meinungsbekundungen nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch die staatlichen Zensoren in Gestalt der iranischen Cyber-Polizei und der Cyber-Armee der Revolutionsgarde auf den Plan.

Die Einschüchterungsstrategie

Die zunehmenden Verhaftungen von Online-AktivistInnen, die vor laufenden Fernsehkameras zu Geständnissen und Äußerungen staatlicher Parolen gedrängt werden, sollen zum Ziel haben, das Vertrauen an eine Privatsphäre im Internet zu untergraben. Mit Aussagen wie „Wer glaubt, dass dieser Raum sicher sei, sollte seine Aktivitäten einstellen“, verunsichern sie User und treiben sie zur Selbstzensur. Regelmäßige Vorladungen und Razzien bei studentischen Zusammenkünften stellen ein bewährtes Mittel der Behörden dar, Angst vor Verfolgung zu schüren und von Gruppenaktivitäten abzuschrecken. Andersons Bericht kommt zu der Schlussfolgerung, dass die iranische Regierung damit „eine Atmosphäre der Angst und Paranoia geschaffen hat, die ihr ermöglicht, die soziale Kontrolle aufrechtzuerhalten und die Meinungsfreiheit einzuschränken“.

Mehr Schein als Sein

Was das Bloggen angeht, ist der Iran im Nahen Osten einsame Spitze
Was das Bloggen angeht, war der Iran viele Jahre im Nahen Osten einsame Spitze

Doch seien die verantwortlichen Behörden im Grunde gar nicht in der Lage, 22 Millionen Internetuser zu überwachen. Den überspannten Anspruch der iranischen Regierung, über all diese Bürger Bescheid zu wissen, sieht Collin Anderson als Ausdruck eines „Minderwertigkeitskomplexes des Beamtenapparates, der sich durch interne Rivalitäten und einem Mangel an technologischer Raffinesse auszeichnet“. Für den Bericht hat Collin Anderson auch 25 Internetaktivisten, die unter Anklage gestanden haben,befragt. Auffällig sei, dass die Beamten bei deren Festnahmen nicht in der Lage gewesen seien, die Passwörter der beschlagnahmten Computer zu knacken. Die meisten Festnahmen fanden auch nicht wegen Aktivitäten im Netz statt, sondern wegen Offline-Aktivitäten der Angeklagten.

Anderson weist in seinem Bericht für „Article 19“ auf „eine deutliche Lücke zwischen dem Geheimdienst und der Kommunikation zwischen den verschiedenen Körperschaften und Amtsbefugnissen der iranischen Behörden“ hin. In der Regel sei die Anzahl der Verhaftungen und der Gewalteinsätze durch die Revolutionsgarden höher als die des iranischen Geheimdienstes.

Im Visier der Cyber-Armee und der Cyber-Polizei

Die Cyber-Armee der Revolutionsgarde beobachte im Netz hauptsächlich KritikerInnen des religiösen Führers Ali Khamenei sowie Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, denen sie bei der Verhaftung Propaganda gegen die Regierung und Staatsverrat vorwerfe, so der Report.

Kritiker befürchten die Verstärkung der staatlichen Kontrolle über die Internet-User - Foto: itsn.ir
Das islamische Regime nutzt alle Möglichkeiten, um den Zugang der eigenen Bevölkerung zum Intenet zu erschweren

Des weiteren konstatiert Anderson, dass JournalistInnen, BloggerInnen, MenschenrechtsaktivistInnen und BürgerInnen dann besonders gefährdet seien, Opfer rechtswidriger Verhaftungen, Folter und unfairer Prozesse zu werden, wenn ihre Netzaktivitäten oder Lebensumstände besondere Merkmale aufweisen. So seien Personen, die im Netz eine große Leserschaft oder viele UnterstützerInnen haben, ebenso auffällig und leicht auszusondern wie Online-AktivistInnen, die in kleinen Städten leben. Auch BürgerInnen, die ihr soziales oder politisches Engagement mit ihrer Identität im Netz verlinken, würden mittels der „traditionellen“ Überwachungsmethoden erfasst und könnten von der Cyber-Polizei schließlich vor das zuständige Gericht für Computerkriminalität gebracht werden.

Selbst schuld?

Die Menschenrechtsorganisation „Article 19“, deren Leitsatz die Verteidigung der Informations- und Meinungsfreiheit ist, beschreibt in der von ihr in Auftrag gegebenen Studie, dass es unter den iranischen InternetuserInnen kein ausreichendes Bewusstsein dafür gebe, die eigene Korrespondenz im Netz diskret zu behandeln. Viele der verhafteten InternetaktivistInnen, die für den Bericht befragt wurden, seien nicht durch adäquate Passworte gesichert gewesen. Die Privatsphäre im Netz zu schützen, indem man sensible Mitteilungen verschlüsselt, Browserdaten regelmäßig löscht oder anders das Risiko vermeidet, erwischt zu werden, sei unter iranischen Usern kaum ein Thema. Auch der relativ sorglose Umgang mit den Social Media führe oft zu Dutzenden Verhaftungen. So beobachtet die Menschenrechtsorganisation „Article 19“ immer wieder, dass die meisten Gefährdungen und Verhaftungen wegen Netzkriminalität vermeidbar wären.

  YASMIN KHALIFA

Downloads:

Der Bericht von „Article 19“ in Englisch

Der Bericht von „Article 19“ in Persisch