„Auch im Morast kann Schönes wachsen“

Mit 14 Jahren startete Golshifteh Farahani ihre Filmkarriere in Dariush Mehrjuis Film „Der Birnbaum“ (Derakht-e Golābī). Während der Dreharbeiten zu Ridley Scotts Film „Body of Lies“ war die heute 35-Jährige mit so massiven Repressionen seitens staatlicher Behörden im Iran konfrontiert, dass sie 2008 den Iran verließ. Kilian Foerster hat mit der inzwischen international bekannten Schauspielerin über ihre Karriere, das Leben im Exil und ihr Frau-Sein gesprochen.
Frau Farahani, welche Bilder fallen Ihnen ein, wenn Sie an Ihre Kindheit im Iran denken?

Golshifteh Farahani: Meine Erinnerungen an den Iran sind riesig. Wenn ich ganz weit in meine Kindheit zurückgehe, erinnere ich mich an die Luftangriffe auf Teheran. Trotz all des Schlimmen, was damals passierte, gab es gleichzeitig auch Schönes, nämlich die starke Verbundenheit und der Zusammenhalt in den Familien. Das, was für mich vom Iran übrig ist, sind Kunst, Musik und meine Familie. Ich habe nicht nur die Stadt Teheran verlassen, sondern das ganze Land Iran, und ich denke besonders gern an die Liebe und Ehrlichkeit der einfachen Menschen auf dem Land und in den Dörfern. Ich vermisse diese einfachen Menschen, nach Teheran empfinde ich nicht so eine große Sehnsucht.

Gibt es etwas aus Ihrer Kindheit im Iran, das Sie sich bis heute bewahrt haben?

Was ich aus meiner Kindheit mit mir trage, sind Träume und Traumata, und ich möchte diese verstehen, finden und auflösen. Ich glaube, das ist es, was ich von meiner Kindheit behalten habe.

Haben Sie sich im Iran manchmal vorgestellt, ein Mann zu sein?

Golshifteh Farahani und ihr Bruder Azarakhsh Farahani
Golshifteh Farahani und ihr Bruder Azarakhsh Farahani

Als ich merkte, wie mein Körper sich zu dem einer Frau entwickelte, wurden mir die Probleme bewusst, die meine Mutter, meine Großmutter oder andere Frauen in diesem Land haben. Da habe ich mir gewünscht, ein Junge zu sein. Zu diesem Zeitpunkt, zwischen meinem 14. und 16. Lebensjahr, habe ich eine Art Doppelleben geführt. Ich hatte meine Haare wie ein Junge geschnitten. Morgens bin ich als Frau mit Hidschab zur Schule gegangen und wurde von den Jungs in unserem Viertel angebaggert. Und abends habe ich mit denselben Jungs und meinen kurzen Haaren Basketball gespielt und sie haben nicht gemerkt, dass ich die gleiche Person bin. Ich hatte Angst, in unserem Land ein typisches Frauenleben zu führen, und ich fürchtete mich davor, in den Morast der typischen Frauenrolle zu rutschen. Aber ich habe dann erkannt, dass es für eine Frau keinen richtigen Fluchtweg gibt und dass auch im Morast etwas Schönes wie eine Lotusblume entstehen kann. Man kann seine Wurzeln im Morast haben, aber sich trotzdem zu einer schönen Blume entwickeln.

Und wären Sie ein Mann, würden Sie dann heute noch im Iran leben?

Als Mann hätte ich das Land nicht verlassen, da ich keine Probleme mit meinem Körper oder dem Hidschab gehabt hätte. Während der Dreharbeiten zu “Body of Lies” wurde ich über sieben Monate immer wieder vom Revolutionsgericht vorgeladen. Und mir wurde klar: Das passiert nur, weil ich eine Frau bin. Das Gericht wartete mit dem Urteil bis zur Filmpremiere, um dann eine höhere Strafe gegen mich verhängen zu können. Deshalb habe ich den Iran vor der Filmpremiere verlassen, da mir sonst die Ausreise verweigert worden wäre.

Wem gehört der Körper einer Frau im heutigen Iran?

Wenn ich als Frau im Iran sage, mein Körper gehört mir, ist das eine große Lüge. Die Wahrheit sieht anders aus: Der weibliche Körper im Iran ist wie ein besetztes Land. Dennoch leisten die Frauen Widerstand. Wenn man Darwins Evolutionstheorie akzeptiert, müsste es parallel eine Theorie für iranische Frauen geben, die den Widerstand in ihren Genen haben. Die Entwicklung der iranischen Frauengesellschaft begann schon vor über 500 Jahren in der Epoche der Safawiden. Danach in der Kadscharendynastie sieht man, was alles schief gelaufen ist mit den Frauen in der Gesellschaft. Und jetzt gibt es die 40 Jahre andauernde Katastrophe der Islamischen Republik Iran. Im Laufe all dieser Jahre haben sich die iranischen Frauen so stark weiterentwickelt wie wenig andere Menschen auf der Erde. Durch den ständigen gesellschaftlichen Druck ist ihr Widerstand regelrecht in ihre Gene eingegangen, sonst wären die iranischen Frauen nicht so stark. Wir – die iranischen Frauen – sind wirklich stark.

Sie sagten in einem Interview, dass sich im Orient jede Frau schuldig fühle, sobald sie sexuelle Gefühle hat.
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