Widerstand und Weltpolitik: Lolita lesen in Teheran
Ein geheimer Lesezirkel, eine unterdrückte Generation und die stille Macht verbotener Bücher: Lolita lesen in Teheran rekonstruiert nicht nur die Atmosphäre der frühen Islamischen Republik, sondern öffnet auch ein Fenster in die seelische Topografie jener Frauen, die zwischen Repression und Selbstbehauptung um geistige Freiheit ringen. Eran Riklis’ Film – getragen von Golshifteh Farahanis nuancierter Darstellung – zeigt, wie Literatur zur letzten Zuflucht wird, wenn das Denken selbst gefährlich ist.
Eine Filmrezension von Farhad Fatemi
Der Film Lolita lesen in Teheran des israelischen Regisseurs Eran Riklis erzählt von einem geheimen Literaturzirkel iranischer Frauen, die sich in den 1980er Jahren über die Grenzen des Erlaubten hinwegsetzen. In einem Land, in dem Bücher und Gedanken gleichermaßen kontrolliert werden, finden sie in den verbotenen Romanen der westlichen Welt einen stillen Ort der Freiheit. Basierend auf den 2003 erschienenen Memoiren der iranischen Literaturwissenschaftlerin Azar Nafisi entfaltet sich ein fein nuanciertes Drama über Selbstermächtigung, Bildung und die subversive Kraft des Lesens. Literatur erscheint hier nicht als intellektuelles Vergnügen, sondern als existenzielle Notwendigkeit – als Rettungsanker in einer Welt, in der das Denken gefährlich geworden ist.
Die Inszenierung überzeugt mit starken Darstellerinnen und einer Atmosphäre, die beständig zwischen Enge und Aufbruch, zwischen Angst und Hoffnung oszilliert. Die Kamera von Hélène Louvart bleibt dicht an den Gesichtern, in denen sich das Spannungsfeld zwischen Anpassung und Aufbegehren spiegelt. Die iranischstämmige Schauspielerin Golshifteh Farahani verkörpert Nafisi mit stiller Entschlossenheit; ihre Darstellung verleiht dem Film jene Ruhe und Würde, die der Intellektualität seiner Figuren entspricht. Die Dialoge sind durchzogen vom Glauben an die Kraft der Literatur als geistigem Zufluchtsort.
Mehr als historische Nacherzählung
Lolita lesen in Teheran ist ein Beitrag zu der Frage, wie Kunst, Politik und Erinnerung miteinander ringen – und wie wichtig es bleibt, den Stimmen Raum zu geben, die sonst zum Schweigen verurteilt wären. Der Film ist weit mehr als historische Rekonstruktion: Er macht eine Epoche iranischer Geschichte emotional erfahrbar, indem er die Perspektive jener Frauen einnimmt, die die Schrecken der frühen Jahre der Islamischen Revolution unmittelbar erlebt haben.
So wird das Kino hier erneut zum Medium des historischen Gedächtnisses. Wie viele politische Filme erzählt auch Lolita lesen in Teheran mehr als nur eine Geschichte: Er steht exemplarisch für Menschen, die Geschichte verkörpert haben – für jene, die Widerstand geleistet, Entscheidungen getroffen oder unter den Konsequenzen eines repressiven Systems gelitten haben.
Kritik wegen israelischer Beteiligung
Abseits seiner künstlerischen Qualitäten sorgt die Finanzierung des Films für Diskussionen: Die Beteiligung der israelischen Regierung wird von einigen iranischen Stimmen als politische Einflussnahme gewertet. Der Vorwurf: Ein geopolitisch verfeindeter Staat nutze kulturelle Mittel, um ein bestimmtes Narrativ über Iran zu verbreiten.
Diese Debatte wirft eine grundsätzliche Frage auf: Darf man ein Kunstwerk allein wegen seiner Geldgeber als Propaganda abstempeln – oder sollte man es an seiner Aussage messen, an der Wahrhaftigkeit seiner Stimmen? Letztlich liegt es an uns, den Rezipient*innen, zwischen künstlerischer Aussage und politischer Instrumentalisierung zu unterscheiden. Ein Werk darf kritisiert werden, auch wegen seiner Herkunft oder Finanzierung. Doch es sollte nicht vorschnell diskreditiert werden, nur weil es unbequeme Wahrheiten ausspricht oder von einem „falschen“ Staat unterstützt wird.
Erinnerung und Erneuerung
Die iranischen Frauen, die heute gegen das islamische Regime protestieren, sind nicht mehr die von 1980. Sie widersprechen, schreiben, tanzen – und erringen kleine, aber bedeutende Siege. Lolita lesen in Teheran erinnert daran, dass kultureller Widerstand oft im Stillen beginnt. Und dass Kunst, selbst wenn sie von außen unterstützt wird, eine innere Wahrheit tragen kann, die Grenzen überwindet.
Vor fünfzig Jahren glaubten Cineasten, jeder Film sei es wert, wenigstens einmal gesehen zu werden. Heute droht man im unendlichen Strom globaler Produktionen zu ertrinken – ein Meer aus Bildern, in dem das Meiste spurlos vorüberzieht. Die meisten dieser Filme zu verpassen, ist kein Verlust. Doch Lolita lesen in Teheran gehört zu jenen Werken, die eine*n innehalten lassen – und die man nicht versäumen sollte.
„Lolita lesen in Teheran“ läuft ab 20. November im Kino.
Foto: Marie Gioanni/ Weltkino
