„Nimm, was da ist“ – Wahlen im Iran

Selbst über die Bezeichnung wird heftig gestritten: Verdient das, was an diesem Freitag im Iran stattfinden wird, Wahlen genannt zu werden? Im Iran haben Wahlen hohe symbolische Bedeutung. Sie werden als Volksbefragungen über bestehende Machtverhältnisse begriffen. Es geht deshalb bei diesem Urnengang weder um Programme noch um Parteien. Der sonderbare Wahlkampf in der Islamischen Republik.

Der offizielle Wahlkampf im Iran dauerte diesmal nur eine Woche. Die wird an diesem Freitag zu Ende gehen. Vorher war es allen KandidatInnen und PolitikerInnen bei Strafe verboten, irgendeine Aktivität zu entfalten, die den Namen Wahlkampf trug. Das war praktisch auch nicht möglich, denn der komplizierte Ausleseprozess der KandidatInnen zog sich so lange hin, dass diese erst vor zwei Wochen offiziell erfuhren, dass sie tatsächlich zugelassen worden sind.

Zeit der Anekdoten und Anspielungen

Und da Parteien und Programme fehlen und die tatsächlichen Probleme des Landes nicht offen angesprochen werden dürfen, bedienen sich die Wahlkämpfer entweder hochtrabender Parolen oder suchen Zuflucht in Andeutungen. Es wäre nicht übertrieben, die Woche vor dem Urnengang im Iran als Tage der revolutionären Sprüche oder Zeit der lustigen Redewendungen, Anspielungen und Märchen zu bezeichnen. Und für Letzteres ist die persische Sprache eine unerschöpfliche Quelle.

Der nackte Junge im kalten Winter

Die letzte Erzählung stammt von Hassan Rouhani persönlich. „Vater und Sohn betreten im Winter ein Bekleidungsgeschäft. Dort finden sie aber nicht die ideale Jacke. Was tun? Soll der Junge nun ohne Jacke auf die Straße gehen und möglicherweise erfrieren, oder soll er sich mit der weniger schönen Jacke begnügen?“, fragte der Präsident sein Publikum auf einer Wahlveranstaltung am vergangenen Samstag. Die Antwort auf Rouhanis Frage steht nicht nur für seine ZuhörerInnen fest, sondern wahrscheinlich für die Mehrheit der IranerInnen. Der Junge soll nehmen, was da ist, sonst wird er erbärmlich erfrieren. Die Zeit des Wunschdenkens ist vorbei, will der Präsident damit sagen, die Gefahren sind so nah und greifbar, dass man sich keinen Luxus erlauben darf. Wäre der Junge dennoch sehr eigenwillig, hätte er protestieren und das Angebot ablehnen können. Denn noch vor zwei Wochen hätte er tatsächlich eine Wahl gehabt. Doch ein mächtiges Organ namens Wächterrat nahm ihm 80 Prozent seiner Favoriten aus dem Angebotsregal.

Gewiefter Taktiker und Rhetoriker

Doch Rouhani, hier mehr in der Rolle eines geschickten Verkäufers als eines Geschäftsinhabers, ist schlau und weiß, wie man Kunden anlockt. Er gilt als einer der besten Rhetoriker und Prediger des Landes. Es war schließlich Rouhani, der in den entscheidenden Tagen der Revolution Ayatollah Ruhollah Khomeini erstmals als Imam bezeichnete. Ein gewagter und riskanter Versuch im iranischen Schiitentum, dessen zwölfter Imam eigentlich im Verborgenen lebt, auf dessen Erscheinen aber kurz vor der Endzeit alle warten. Rouhanis mutiges Wagnis von damals war ein voller Erfolg, die Bezeichnung Imam wurde zu einer Art Logo der Islamischen Revolution. In den 37 Jahren, die seitdem vergangen sind, war Rouhani in den höchsten Sicherheitsorganen des Landes präsent, zuletzt als Generalsekretär des nationalen Sicherheitsrats.

Reformer haben nichts zu melden

Nun steht Rouhani als Präsident vor zwei Wahlen, die viele als historisch und schicksalhaft bezeichnen. Mögen diese Begriffe abgenutzt sein, doch bei den Doppelwahlen geht es um Rouhanis neue Politik und eine zweite Präsidentschaft ebenso wie um den künftigen Revolutionsführers des Landes. Das sind für den Iran und die gesamte Region historische Entscheidungen. Um die Radikalen zu beruhigen, wiederholt Rouhani deshalb bei jeder Gelegenheit, er sei kein Reformer, sondern nur ein Gemäßigter, ein Moderater, und in dieser Eigenschaft ein Anhänger des Revolutionsführers.

Der reformorientierter Politiker Mohammad Khatami - sein Foto darf in den iranischen Medien nicht erscheinen!
Der reformorientierter Politiker Mohammad Khatami – sein Foto darf in den iranischen Medien nicht erscheinen!

Denn das Wort Reformer ist für die Mächtigen ein Synonym für Verräter, Aufrührer und sogar Spion des Auslands. Reformer sind Anhänger von Ex-Präsident Mohammad Khatami, der so verfemt ist, dass sein Bild, ja sogar sein Name nirgendwo erscheinen darf. Als am vergangenen Sonntag in der entlegenen Stadt Bushehr am Persischen Golf eine kleine Gruppe wagte, ein Wahlplakat mit Khatamis Bild an die Wand zu kleben, schaltete sich nicht nur der dortige Staatsanwalt ein, sondern auch der Generalstaatsanwalt in der fast 2.000 Kilometer entfernten Hauptstadt: So weit und so tief sitzt die Angst der Mächtigen. Verständlich, dass Rouhani in einem solchen Klima kein Reformer sein kann und will. Doch zugleich kann er das gesellschaftliche Potenzial der Reformer im Land nicht übersehen, ohne die er wahrscheinlich nicht Präsident geworden wäre. Manche Soziologen schätzen die Stärke der Radikalen auf höchstens 20 Prozent, in einigen Großstädten sogar nur einstellig.

Eine Großkoalition iranischer Art

Gewieft und geschickt wie immer zimmerte Rouhani deshalb für Teheran und fast alle Städte des Landes Wahllisten, die eine Art Koalition darstellen – eine eigenartige Großkoalition, bestehend aus seinen eigenen Anhängern, den „vernünftigen“ Radikalen, verziert hier und da mit einigen unbekannten Reformern. Diese Liste ist jene Jacke, die der Junge im Bekleidungsgeschäft kaufen soll. Er darf keine Sonderwünsche anmelden, denn schließlich lebt er ja im Nahen Osten und nicht in der Schweiz.

Sicherheit über alles

Der unzufriedene Junge und seinesgleichen sollten froh sein, dass sie ihr Dasein im Iran verbringen und nicht in den Nachbarländern Irak, Afghanistan, Syrien oder Jemen. Der Iran gilt als das sicherste Land der Region, sogar sicherer als die Türkei, die bis vor kurzem für viele Reformer als eine gelungene Mischung aus Moderne und Islam galt. Sicherheit als das höchste Kapital, für das alle werben, Rouhani ebenso wie seine Gegner in den omnipotenten Revolutionsgarden. Diese Sicherheit – manche sagen: die Abwesenheit eines Bürgerkrieges – loben sogar Oppositionelle im Ausland und warnen auf Webseiten vor einem Wahlboykott und der Rückkehr von Gestalten wie Rouhanis Vorgänger Mahmud Ahmadinedschad.

Ob die Urnengänge im Iran aber tatsächlich Wahlen im herkömmlichen Sinne genannt werden können, bezweifeln Oppositionelle trotz all dem. Denn angesichts der Umstände der Kandidatenauslese sind die Doppelwahlen am Freitag sogar für überzeugte AnhängerInnen der Islamischen Republik höchst undemokratisch. Für manche religiöse und ethnische Minderheit sind sie eine Art institutionelle Diskriminierung.

Ein notwendiges Schauspiel

Werden die Menschen auch diesmal für die Stimmabgabe Schlange stehen?
Werden die Menschen auch diesmal für die Stimmabgabe Schlange stehen?

Doch die Zeit des Wahlkampfs ist knapp und die Vorgaben und Vorschriften der Sicherheitsorgane sind strikt. Deshalb gibt es keinen Raum für Diskussionen derlei zweitrangiger Probleme. Die Prioritäten liegen bei innerer Stabilität, äußerer Sicherheit und dem ruhigen Ablauf des Wahltags. Fernsehbilder von langen Wahlschlangen sind die wichtigsten Ergebnisse des Tages. Nicht nur im Land selbst, auch im Ausland soll sich das Publikum ein ruhiges Bild der islamischen Republik machen. Den FernsehzuschauerInnenn soll vorgeführt werden, wie sich das Land von anderen Staaten der Region abhebt. Dafür bekamen bis vergangenen Montag 470 ausländische JournalistInnen ein Visum, um dem Schauspiel beizuwohnen. Auch andere BesucherInnen aus dem Ausland sind höchst willkommen. Bis auf neun Länder bekommen BürgerInnen aller Staaten der Welt inzwischen schon bei der Ankunft auf dem Flughafen ein Touristenvisum, meldete vor drei Wochen das iranische Außenministerium.

Wahlbeteiligung weit über 50 Prozent?

Kameraleute werden imposante Aufnahmen machen können, denn man geht von einer hohen Wahlbeteiligung weit über der 50-Prozent-Marke aus. Es wäre eine lange und komplizierte Studie nötig, um herauszufinden, warum massenhaft gewählt wird, obwohl die meisten WählerInnen mit den Zuständen im Land höchst unzufrieden sind. Wahrscheinlich müsste man sich einem persischen Sprichwort zuwenden: „Egal wann und wo Du den Schaden stoppst, da ist schon ein Gewinn.“

Es sind solche Redewendungen, die ein Stück Wahrheit vermitteln und zugleich diesen Wahlkampf entscheidend bestimmen. Zeit und Raum für langweilige Diskurse über komplizierte Sachverhalte gibt es nicht.

Soziale Medien als einziger Freiraum

„Die Liste der Engländer“, so nennen die Radikalen Rouhanis Wahlliste. Denn Großbritannien oder „Englis“, wie man im Persischen abschätzig sagt, war seit einer Ewigkeit und ist für viele immer noch der Ort jeglicher Heimtücke, List und Verschwörung. Rouhani besitzt übrigens einen Doktortitel der Rechte von einer englischen Universität.

Nirgendwo lassen sich diese nichts- oder vielsagenden Kurzkommentare und Andeutungen effektiver verbreiten als in den sozialen Netzwerke, in denen die IranerInnen so viel unterwegs sind wie kaum ein anderes Volk in der Region. Trotz unzähliger Filtermechanismen und miserabler Internetgeschwindigkeit sind 72 Prozent der iranischen Jugendlichen zwischen 18 und 29 Jahren Mitglied in einem sozialen Netzwerk, so eine Studie der Universität Teheran, die an diesem Dienstag erschien. Und die junge Generation ist der eigentliche Adressat der Kurzbotschaften. Sie ist die wichtigste Wählergruppe des Landes. Je mehr dieser Jugendlichen zur Wahl gehen, umso mehr kann Rouhani auf ein Parlament hoffen, das ihm in den letzten zwei Jahren seiner Amtszeit wenig Stolpersteine in den Weg legt.

Hohe Wahlbeteiligung hat auch Tücken

Es gibt aber auch Beobachter, die meinen, eine zu hohe Wahlbeteiligung schmecke dem Revolutionsführer Khamenei nicht, obwohl der vor drei Wochen alle IranerInnen, selbst die Gegner des System aufgefordert hat, wählen zu gehen. Für den mächtigsten Mann des Landes ist vor allem die Hauptstadt mit ihren fast zehn Millionen EinwohnerInnen heikles Gebiet: nicht nur numerisch, sondern auch symbolisch. Hier kandidiert an der Spitze der Radikalen Haddad Adel, enger Vertrauter und Verwandter Khameneis. Doch die Mehrheit der TeheranerInnen wählte bisher reformistisch. Am bevorstehenden Wahltag würde die Hauptstadt höchstwahrscheinlich etwa eine Million BesucherInnen aus den umliegenden Dörfer bekommen, Busse stünden bereit, sagte am vergangenen Mittwoch der Parlamentsabgeordnete Rassul Montakhab Nia der Zeitung Etemad. Denn IranerInnen können da wählen, wo sie sich gerade befinden. Doch die Wahlbeteiligung ist nur die eine Geschichte, das endgültige Wahlergebnis die andere. Die Auszählung der Stimmen ist ein Buch mit mehr als sieben Siegeln – eine Prozedur voller Irrungen und Wirrungen.

  ALI SADRZADEH