Leben am Abgrund

Die Welt schaut auf den Iran – wir schauen direkt hinein: Wie leben die Menschen im Iran angesichts der Kriegsdrohung und der Herausforderungen, vor die sie die wirtschaftliche Not infolge der US-Sanktionen stellt? Nasrin Bassiri hat mit Iraner*innen gesprochen, die vor nicht allzu langer Zeit noch der Mittelschicht angehörten.
Die ganze Welt spekuliert darüber, wie sich die Lage zwischen zwei so unberechenbaren Parteien wie den USA, vertreten durch ihren Präsidenten Donald Trump, und dem Iran und dessen mächtigstem Mann Ayatollah Ali Khamenei entwickeln wird. Will Trump den Iran angreifen? Was wird in der Region passieren, wenn sie einem Krieg ausgesetzt ist? Wer gewährt die Sicherheit für die Tanker, die täglich die Straße von Hormuz passieren? Wie werden sich Russland, China und Europa verhalten, wie werden Assad und der Irak auf US-Angriffe reagieren? Wie die pro-iranischen Milizen im Irak, im Jemen, in Afghanistan, Syrien, dem Libanon und Palästina? Wird der jahrelang bekämpfte IS eine zweite Chance erhalten, wenn er wie einst Al Qaida gegen die Russen als bellender Hund gegen den Iran instrumentalisiert wird? Wie wird Israel reagieren? Wie werden sich die iranischen Oppositionellen zwischen dem Patriotismus und der eigenen verhassten Regierung positionieren? Und nicht zuletzt: Welche Folgen wird ein Angriff für Europa haben, wenn er eine neue Flüchtlingswelle auslöst?
Das sind die Fragen, die die Weltöffentlichkeit beschäftigen. Doch wie geht es den Iraner*innen? Welche Antworten finden sie auf diese Fragen? Und wie leben sie mit den Herausforderungen, vor denen sie angesichts des sich stetig zuspitzenden Konflikts stehen? Wir haben mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft gesprochen, die weder der Opposition angehören noch der Regierung nahestehen; Menschen, die zur iranischen Mittelschicht gehörten und heute mit den Folgen der Sanktionen zu kämpfen haben.
„Leben in der Hölle“
Wie Setare Moghimi*: Die hochqualifizierte pensionierte Staatsbeamtin, deren Familie bereits in der Schah-Ära gut situiert war, lebt heute mit ihrem früher freiberuflich tätigen Ehemann und einer unverheirateten Tochter außerhalb der Teheraner Innenstadt. Das Mehrfamilienhaus, in dem die Familie lebt, hat Moghimi gemeinsam mit ihrem Mann gekauft. Vier Wohnungen sind vermietet. Die Familie hat ihr Auskommen durch eine Pension, die heute noch 270 Euro wert ist, und Mieten, die jedoch nicht so schnell steigen, wie der Wert der iranischen Währung verfällt. Dennoch gehört das Ehepaar bislang noch zur gut situierten iranischen Mittelschicht. Sie können im Gegensatz zur Mehrheit der Iraner*innen noch regelmäßig Fleisch kaufen und ihre nötigen Medikamente auf dem freien Markt besorgen, da sie in Apotheken kaum noch zu erhalten sind.
Auf die Frage, ob sie sich Sorgen darüber macht, dass die USA den Iran militärisch angreifen könnte, sagt Setare Moghimi schlicht „Nein“, und fügt hinzu: „Der Iran ist ein großes Land, das die USA nicht flächendeckend bombardieren kann. Wenn Trump eine Ecke bombardiert, bleiben noch viele, um dort zu überleben.“
„Wir leben schon seit vielen Jahren in der Hölle“, ergänzt sie mit einem Lachen. „Uns passiert das, was auch dem Rest der Bevölkerung geschieht; unser Blut ist nicht blauer als Blut der anderen.“ Auch um die Lebensmittelversorgung mache sie sich keine Sorgen: „Ein bisschen Milch, ein wenig Brot und Käse finden wir überall. Wichtiger als alles andere ist die Sicherheit des Landes.“ Als Patriotin will sie dennoch nicht gelten: „Das war einmal, dass die Iraner Patrioten waren. Heute hat die Sorge um Brot und Medikamente die Liebe zur Heimat verdrängt.“

Flugzeugträger der USA im Persischen Golf
Flugzeugträger der USA im Persischen Golf – jederzeit bereit zum Angriff!

 
„Trump wird den Iran nicht angreifen“
Ali Mansouri* ist Berufsschullehrer. Der 28-Jährige gehört zu den Glücklichen, die nach dem Studium eine Anstellung gefunden haben, auch wenn er sich dafür verpflichten musste, zehn Jahre lang außerhalb seiner Heimatstadt, die in der nordostiranischen Provinz Khorasan liegt, zu arbeiten. Für drei bis vier Tage in der Woche fährt er in eine kleine Grenzstadt nahe Afghanistan, um dort zu unterrichten. Er hat dort in der Nähe der Schule aus Kostengründen mit sechs weiteren Lehrern, die ebenfalls pendeln, ein heruntergekommenes Haus gemietet. Die drei bis vier unterrichtsfreien Tage verbringt Mansouri mit seiner Familie. Jede Woche fährt er die 206 Kilometer lange Grenzstraße zur Schule und wieder zurück. Für die Hin- und Rückfahrt braucht man mit dem Auto sechs Stunden, da er aber kein Auto besitzt und die Busse nicht regelmäßig fahren, braucht Mansouri länger, um ans Ziel zu kommen. Manchmal muss er sich an den Straßenrand stellen in der Hoffnung dass ein Auto ihn mitnimmt. Die Grenzstraße ist nur wenig befahren und gefährlich. Wenn er von Sicherheitskräften angehalten wird, muss der Lehrer seinen Ausweis und einen Passierschein vorlegen.
Mansouris Trost: Im Sommer darf er der Schule drei Monate lang fernbleiben. Als Trump seine letzte Kriegsdrohung formulierte, war der Lehrer gerade in einem Dorf in der Nähe seiner Heimatstadt, wo sein Vater Ackerland besitzt, und half ihm, dieses zu bestellen. Erst am Freitag erfuhr der junge Mann, was los war, denn im Dorf gibt es weder Internet noch Empfang für Mobiltelefone. Mansouri sagt: „Wir haben ernsthafte Probleme mit den Sanktionen. Das iranische Geld ist gerade noch soviel wert wie ein Papiertaschentuch.“ Dass Trump den Iran angreife, fürchtet er nicht: „Trump hat fast gestottert, als er sagte, dass der Anschlag auf die Drohne nicht absichtlich gewesen und nicht von der iranischen Regierung geplant worden sei, sondern vielleicht von einem einzigen Hardliner eigenständig durchgeführt wurde.“ Trump werde den Iran nicht angreifen, weil dieser „strategische Vorteile“ habe: „Der Iran kontrolliert die Straße von Hormuz, die das gesamte Erdöl der Region passiert“, sagt er. „Der Golf von Aden wird praktisch von den verbündeten Huthi-Kräften kontrolliert, und der Iran hat in diversen weiteren Gebieten paramilitärische Kräfte wie die von 40 schiitischen Milizen in Irak gegründete Dachorganisation Al-Hashad al-Shabi, die Quds-Brigaden und die afghanischen Fatemiyoun-Söldner in Syrien, die Hizbollah im Libanon, und die Al-Quds-Brigade in Palästina. Trump wird doch nicht riskieren, alle diese Geister wachzurufen.“ Außerdem gehöre der iranische Luftraum zu den sichersten in der Region: „Angreifer werden mit Raketen vernichtet.“ Er habe in persischen TV-Sendern gesehen, dass es einige unterirdische Raketenstützpunkte an verschiedenen Orten im Iran gebe, so Mansouri.
Dazu kämen die bevorstehenden Wahlen in den USA – ein weiterer Grund, warum Trump den Iran nicht angreifen werde, glaubt der Lehrer: Denn durch einen Angriff auf den Iran werde dessen Popularität sinken: „Er hat ja immer wieder gesagt, dass er die Kriege beenden und keine neuen anfangen möchte. Trumps Partei will keinen Krieg – und die Demokraten würden es begrüßen, wenn er diese Dummheit begeht.“
“ Fast alle unter der Armutsgrenze“
Fortsetzung auf Seite 2