Ein zweites Syrien?

Das Bild, das Karrubi von der Islamischen Republik entwirft, ist erschreckend, düster und äußerst bitter. Nach offiziellen Angaben leben zehn Millionen Iraner unter der Armutsgrenze, und das, so Karrubi, werde täglich dramatischer, wenn eintreten sollte, was die iranische Umweltbehörde voraussage. Tatsächlich hat Issa Kalantari, Chef der Behörde, seit seiner Amtsübernahme im vergangenen Sommer mehrmals verkündet, wenn sich das Wassermanagement des Iran nicht grundsätzlich ändere, würden innerhalb der nächsten zwanzig Jahre fünfzig Millionen Iraner ihre Heimatorte verlassen müssen. Das Land habe 97 Prozent seines Grundwassers verbraucht, und sollte die momentane Dürre andauern, verwandele es sich in eine Wüste, so Kalantari.
Er muss es wissen. Denn der 65-Jährige ist ein in den USA ausgebildeter Agrar- und Umweltexperte und war fast 20 Jahre lang Landwirtschaftsminister der Islamischen Republik. „Ich habe dem verehrten Führer der Republik geschrieben: Lösen Sie erst das Wasserproblem, bevor Sie eine Familienpolitik propagieren, durch die die Bevölkerung auf 150 Millionen anwachsen soll“, sagte Kalantari schon bei seinem Amtsantritt im vergangenen August. Doch noch hält Revolutionsführer Khamenei an seiner Familienpolitik fest, noch will er die Geburtenrate steigern und die wachsende Scheidungsrate senken.
Hauptverantwortlich ist Khamenei
Karrubi richtet seinen Brief an Ali Khamenei, weil er ihn zu Recht für den Hauptverantwortlichen der ausweglosen Situation des Landes hält. Sein Schreiben beginnt deshalb mit einem Satz von Khamenei selbst, aus dessen letzter öffentlichen Rede. An die Adresse früherer und jetziger Staatspräsidenten gerichtet, hatte Khamenei da gesagt, man könne nicht Jahrzehnte lang verantwortliche Staatspositionen bekleiden und später wie Oppositionelle auftreten.
Genau diesen Satz zitiert Karrubi und schreibt: „Aber an der Spitze des Staates stehen Sie; Sie sind es, der nun dem Volk antworten muss.“ Karrubi schildert, wie Khamenei in den vergangenen dreißig Jahren nach und nach den gesamten Staat an sich riss, Sicherheitskräfte, Justiz, Medien, die Außenpolitik und den größten Teil der Wirtschaft unter seine Kontrolle brachte. Er zieht eine vernichtende Bilanz von Khameneis dreißigjähriger Herrschaft, verweist auf die jüngsten Unruhen und fragt: „Haben Sie das wochenlange Schreien der Entrechten in den entlegenen Teilen des Landes gehört?“

Karrubi (li.) und Mir Hosein Moussavi , unter dem Hausarrest stehenden Integrationsfiguren der Grünen Bewegung
Karrubi (li.) und Mir Hosein Moussavi , unter dem Hausarrest stehenden Integrationsfiguren der Grünen Bewegung

 
Keine gewaltlose Machtübergabe
Diejenigen, die da protestierten, seien einst die Basis der Islamischen Republik gewesen: „Und das war nur der Anfang“, warnt Karrubi: „Wem wollen Sie das Land in diesem Zustand hinterlassen? Glauben Sie, dass sich die Machtübergabe nach Ihnen reibungslos und gewaltfrei vollzieht?“, fragt er süffisant. Denn zuvor hatte er beschrieben, wie sich Khameneis Sohn Modjtaba aus dem Hintergrund in die wichtigsten innen-, außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen einmischt – ein Seitenhieb auf die Debatte um Khameneis Nachfolge, die in den vergangenen Wochen wieder einmal zu einem wichtigen Thema in den sozialen Medien aufgestiegen ist.
Dieser offener Brief am Vorabend der Feierlichkeiten zum 39. Jahrestag der Revolution, dazu aus der Feder eines Mannes aus deren erster Stunde, sagt viel über den Zustand der Islamischen Republik in ihrem vierzigsten Jahr aus.
Die ruhigen Zeiten scheinen vorbei
Täglich gibt es Meldungen darüber, dass in verschiedenen Städten des Landes unterschiedliche Berufsgruppen protestieren. Mal sind es Fabrikarbeiter, die seit Monaten keinen Lohn bekommen haben, mal Lehrer, die sich gegen Behördenwillkür auflehnen, oder Sparer, die von Scheinbanken um ihre Ersparnisse gebracht wurden.
Der Staat, sprich die Revolutionsgarden und die paramilitärischen Verbände (die Basijis), hält sich demonstrativ zurück – noch. Und das in einer Zeit, in der US-Präsident Donald Trump den Iran zur Hauptquelle aller mörderischen Konflikte im Nahen Osten erklärt.
Sind diese innen- und außenpolitischen Herausforderungen nun Vorboten eines bevorstehenden zweiten Syriens? Es ist müßig und hypothetisch, darüber zu sinnieren, manche meinen, es sei sogar kontraproduktiv. Denn die politische Entwicklung im Iran sei noch friedlich, zivilisiert und sehr einfallsreich.
Weiblich, kunstvoll und friedlich
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